Mit der Stimme der Kollegen zu neuem Inhalt unserer Arbeit

Rede von Annelis Kimmel Vorsitzende des Bundesvorstandes des FDGB

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich danke dem Bundesvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes für sein Vertrauen. Ich bin mir der großen Verantwortung und Schwere der Aufgaben bewusst. Ich übernehme sie in einer Zeit großer Spannungen und angestauter Probleme, in einer Zeit großer Vertrauensverluste unserer Mitglieder, insbesondere in die Führung unserer Organisation, wozu auch unsere Unentschlossenheit am Montag nicht unerheblich beigetragen hat.

Es ist aber auch eine Zelt des gesellschaftlichen Aufbruchs, die vieles in Bewegung bringt, und uns die Chance gibt, mit der Klugheit und der Bereitschaft unserer Mitglieder den Weg zu einer echten Erneuerung zu finden. Das gibt mir die Kraft und den Mut, für die Interessen und das Wohl unserer Mitglieder diese Aufgabe anzugehen.

Es ist für mich an dieser Stelle schwer, aufgrund der Zeit, die mir zur Verfügung stand, mit einem ausgereiften Konzept vor euch hinzutreten. Ich möchte aber einige Gedanken aus dem Kampf und der Auseinandersetzung der letzten Wochen und Tage hier darlegen. Inhalt und Stil der Arbeit neu bestimmen

Als erstes liegt mir am Herzen, hier zu sagen, dass unsere ganze Achtung und Anerkennung, unsere ganze Sorge und Arbeit viel stärker als zuvor unseren Gewerkschaftsmitgliedern und allen ehrenamtlichen Funktionären in den Grundorganisationen gelten muss. Sie sind das Fundament und die starke Kraft der Veränderung unserer Gesellschaft und unseres Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes zu unser aller Wohl.

Ihnen gilt mein aufrichtiger Dank für das verantwortungsvolle, engagierte, ja auch kräftezehrende Wirken im Kampf um den Erhalt unseres Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes als Einheitsgewerkschaften im Ringen um du Vertrauen der Kollegen und die Erfüllung der täglichen Arbeitsaufgaben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Alle bisherigen Ergebnisse gewerkschaftlicher Interessenvertretung achtend, möchte ich in dieser Stunde Kollegen Harry Tisch für sein langjähriges Wirken herzlichen Dank sagen. Sein unermüdliches Eintreten für die Entwicklung und Stärkung unserer Organisation wird in unserer Achtung bleiben.

Nun stehen wir vor einem neuen Anfang. Wir sind angehalten, unsere bisherige gewerkschaftspolitische Arbeit konstruktiv in Frage zu stellen, um so gültige Antworten für den Inhalt und den Stil unserer Arbeit in schöpferischer, breiter, demokratischer Aussprache mit unseren Mitgliedern neu zu bestimmen. Dazu brauchen wir auf der Basis unserer ersten Erklärung vom vergangenen Montag sehr schnell ein Aktionsprogramm, welch die nächsten Schritte enthält.

Ich verstehe das Diskussionspapier unserer Gewerkschaftshochschule "Fritz Heckert" gestern in der TRIBÜNE auch so, dass es den offenen Meinungsstreit zu unserer gewerkschaftlichen Positionsbestimmung fördern kann. Einig müssten wir uns darüber sein, dass die Einheit der Gewerkschaften erhalten bleiben muss. Das ist nicht zuletzt auch eine Lehre, die wir aus der Geschichte der Arbeiterbewegung gezogen haben. Dafür wurden viele Opfer gebracht, die nicht umsonst sein dürfen. Die Interessen kämpferisch vortreten

Als einheitliche, unabhängige und freie Gewerkschaften wollen wir kämpferisch die Interessen der Arbeiterklasse und aller anderen Werktätigen in jeder Situation verfechten. Den Schutz der Interessen unserer Mitglieder verstehen wir als unsere oberste Pflicht. Das erfordert, die Eigenständigkeit der Gewerkschaften vom Betrieb bis zum Bundesvorstand wirksamer als bisher wahrzunehmen. Für den Bundesvorstand heißt das, die Interessen der Mitglieder auf ökonomischem, sozialem und geistig-kulturellem Gebiet gegenüber der Regierung der DDR prinzipieller und vor allem öffentlich einzufordern.

Klar tat und bleibt, wir wollen als Freier Deutscher Gewerkschaftsbund auf dem Boden des Sozialismus alles in unseren Kräften stehende für das Wohl unserer Menschen und einen dauerhaften Frieden tun.

Wir bauen auf die aktive Mitarbeit und Zusammenarbeit mit den Kommunisten und den Mitgliedern aller demokratischen Parteien und Organisationen unseres Landes in den Gewerkschaften wie auf die aktive Mitarbeit der parteilosen Kollegen, der Frauen, der Jugend und unserer hochgeschätzten Gewerkschaftsveteranen.

Unser Freier Deutscher Gewerkschaftsbund ist für alle offen, unabhängig von politischen und religiösen Anschauungen, Staatsangehörigkeit und Geschlecht. Die Interessen unserer Kollegen werden wir konsequent und hartnäckig auf der Grundlage der Verfassung der DDR gegenüber staatlichen Leitern und Leitungsorganen vertreten und durchsetzen. Wir kämpfen dafür, dass es durch Leistung jedem zukünftig besser geht als heute.

Die Wahrheit bleibt jedoch, dass die Planerfüllung 1989 darüber mit entscheidet und ein anspruchsvoller und bilanzierter Plan 1990 erforderlich ist. Gerade dazu brauchen wir entsprechend der Geschichte des sozialistischen Wettbewerbs auf allen Ebenen die gegenseitige kameradschaftliche Zusammenarbeit.

Wir verstehen den Sozialismus als eine Leistungsgesellschaft, in welcher der Mensch im Mittelpunkt steht und in der nur das verbraucht werden kann, was erwirtschaftet wurde. Die Wahrung der Interessen unserer Kollegen verpflichtet uns zur Durchsetzung von Maßnahmen zur spürbaren Verbesserung der Arbeits-, Lebens-, Wohn- und Umweltbedingungen gegenüber den Staatsorganen.

Mit Nachdruck haben wir die Forderung zu stellen, dass den Fragen der Verbesserung der materiellen Arbeitsbedingungen die notwendige Beachtung geschenkt wird und umsehend von den staatlichen Organen Entscheidungen getroffen werden, wie zum Beispiel zur Reparatur der Dächer, zu Umschlag- und Lagerprozessen, Ausrüstungen für Küchen und sanitärhygienische Einrichtungen. Die vertraglichen Regelungen zur Erfüllung dieser Lebensinteressen in den Betriebskollektivverträgen benötigen unsere größte gewerkschaftliche Unnachgiebigkeit. Austritte sind schmerzlich

Wir werden die Autorität und demokratische Mitwirkungsmöglichkeit der Abgeordneten mit dem Mandat des FDGB bedeutend zu erhöhen haben. Jede die Interessen der Werktätigen berührende Entscheidung der Volksvertretungen und Staatsorgane bedarf künftig ihrer gewissenhaften Prüfung und der demokratischen und alternativen Suche nach der besten Lösung für die Menschen. Das gilt auch für die öffentliche gewerkschaftliche Kontrolle zur Durchführung der Beschlüsse. Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nicht zuletzt sind die unzähligen Wortmeldungen, Kritiken und Hinweise aus allen Bezirksorganisationen des FDGB eine wertvolle Quelle für unsere Arbeit, um im Interesse unserer Mitglieder kurzfristige Veränderungen herbeizuführen. Da es Forderungen gibt, dass das gesamte Präsidium und das Sekretariat des Bundesvorstandes seinen Rücktritt erklärt, möchte ich euch bitten, dass mir und dem Bundesvorstand etwas Zeit gegeben wird, Vorschläge für weitere Kaderveränderungen vorzulegen.

Schmerzlich sind für uns die vorliegenden Austritte von Kollegen aus dem FDGB. Sie sind nur durch solide Arbeit unserer ganzen Organisation vorn Bundesvorstand bis zur Gewerkschaftsgruppe zurückzugewinnen.

Ich plädiere dafür, das Gewerkschaftshaus umgehend allen Mitgliedern, ihren Fragen, Sorgen, Problemen, Interessen und Neigungen zu öffnen. Es soll künftig eine Stätte des reichen gewerkschaftlichen Lebens der Kollegen sein. Jedes Gewerkschaftsmitglied soll hier die Möglichkeit wahrnehmen, Antwort, Rat und Hilfe zu erhalten. Auch gewerkschaftliche Kulturarbeit und Volkskunst sollten hier zu Hause sein. Eigenverantwortung fördern

Einer der ersten Schritte besteht darin, dass wir auch im Bundesvorstand des FDGB eine ständige Konsultationsstelle errichten, wo jeden Nachmittag Funktionäre Rede und Antwort stehen. Du gilt übrigens für alle Vorstände.

Ein weiterer Gedanke, der mich bewegt, ist, dass der Maßstab der Bewertung für die Arbeit jedes Gewerkschaftsfunktionärs sein Wirken in den Gruppen, Kollektiven und Grundorganisationen sein muss. Merkmal für eine gute Gewerkschaftsleitung ist das Vertrauen der Kollegien, die Vertretung und der Schutz ihrer Interessen. Wir müssen sie von Statistiken und Berichten in hohem Maße befreien. Die wichtigste Informationsquelle ist die Arbeit.

Die Eigenverantwortung unserer Industriegewerkschaften und Gewerkschaften müssen entschieden gefördert werden. Ihnen stehen große Aufgaben bevor. Sie sind gefordert, in den Erneuerungsprozess unserer sozialistischen Gesellschaft ihren zweigspezifischen Beitrag einzubringen und die Berufsinteressen der Mitglieder im umfassenden Sinne zu wahren und durchzusetzen.

Einiges, liebe Kolleginnen und Kollegen, braucht auch noch Zeit nicht nur für den Bundesvorstand, sondern um möglichst alle Ideen, Vorschläge, Hinweise, auch Mahnungen der Mitglieder in den Prozess der Entscheidungsfindung einzubeziehen. Doch die Zeit drängt auch hier, schnellstmöglich zur gewerkschaftlichen Positionsbestimmung und konzeptionellen Arbeit überzugehen. Das betrifft besonders solche Sachtragen wie die Erneuerung der Subventionspolitik, wobei wir uns im klaren sein müssen, dass wir die Interessenvertreter der Mindestrentner wie der Spitzenverdiener sind. Mehr Spielraum für Betriebe

Zur konsequenten Durchsetzung des Leistungsprinzips. Hier sind wir dafür, dass jeder entsprechend seinen Leistungen Anerkennung mit Lohn, Prämie, Zuschüssen, Lob und anderen leistungsfördernden Stimuli erhält. Der Bundesvorstand unterstützt die berechtigte Forderung, dass mit der Jahresendprämie bei gestiegener Leistung die Einschränkungen beseitigt werden.

Der Spielraum der Betriebe sollte erweitert werden, damit die geplanten Lohnmittel, die durch Rationalisierung und Verminderung der Arbeitskräfte eingespart werden, selbst zur Leistungsstimulierung, z. B. für hohe Ergebnisse der Leistungen der Hoch-und Fachschulkader, einsetzbar sind.

Der Bundesvorstand unterstützt dabei solche vorgesehenen Sofortmaßnahmen zur gerechteren Entlohnung wie die zur Erhöhung der Rolle des Meisters über die leistungsabhängigen Gehaltszuschläge, wo den Betrieben das Recht eingeräumt werden muss, diese über die Gehaltsspanne hinaus zu zahlen.

Den Betrieben ist das Recht zu gewähren, nicht in Anspruch genommene Mittel des Lohnfonds für die Stimulierung hoher Leistungen einzusetzen und diese nicht mehr an den Staat abzuführen. An weiteren Maßnahmen muss gearbeitet werden.

Wie fordern vorn Ministerrat, dass alle Fragen und Entscheidungsvorbereitungen auf wirtschafts-, sozial-, rechts-, kultur- und bildungspolitischem Gebiet mit den Gewerkschaften beraten werden und ihre Vorschläge Berücksichtigung finden.

Wir sind aber auch entschieden dafür, dass mangelhafte Leistung nicht weiter überbezahlt wird und dass es für niemanden Sonderrechte gibt. Hier gilt nur eines, dort wo es sie gibt, sofort abschaffen.

Kollege Nennstiel hat erklärt, heute hier die Konsequenzen zu ziehen aus der Wirkung des gestrigen Zeitungsartikels. Dieser Eigenheimbau wird dem Kollegen Peter G(...) und seiner Frau Evelin, die beide in den Berliner Verkehrsbetrieben arbeiten und neun Kinder haben, übertragen, wozu ihnen ein Kredit gewährt wird.

Gründliches Nachdenken brauchen wir über solche Fragen wie die neue Qualität der innergewerkschaftlichen Demokratie, beginnend beim Bundesvorstand bis zur Gewerkschaftsgruppe, den Inhalt, die Formen und Methoden der Führung des sozialistischen Wettbewerbs unter den Bedingungen der Wirtschaftsreform, Lohn- und Tarifpolitik, der neue Inhalt der Plandiskussion, Vorschläge zur Konkretisierung des Arbeitsgesetzbuches, die weitere Ausgestaltung des Betriebskollektivvertrages als Dokument der Werktätigen zur Verwirklichung ihrer Interessen, über den Inhalt, die Formen und Methoden der Schulung und Anleitung der Gewerkschaftsfunktionäre in den Grundorganisationen, die entschiedene Erhöhung der Autorität der vorn FDGB nominierten Abgeordneten und die Erhöhung des Einflusses auf die Freizeit und Erholung der Werktätigen. Das ist eine Aufzählung, und ihr seht daran schon, was an Arbeit auf unseren FDGB zukommt.

Wir stehen als FDGB und Mitglied des Weltgewerkschaftsbundes zu unserer Verantwortung in der internationalen Gewerkschaftsbewegung. Unsere brüderlichen Beziehungen zu den Gewerkschaften der sozialistischen Länder werden wir weiter pflegen und dabei die Erfahrungen der sowjetischen Gewerkschaften im Prozess der Umgestaltung studieren.

Unsere Freunde in aller Welt sollen wissen, der FDGB wird ihnen auch künftig zuverlässiger Gefährte sein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das waren einige Gedanken zur weiteren Arbeit. Vor uns liegt eine Zeit intensiver, harter Tätigkeit in Vorbereitung des 12. FDGB-Kongresses. Und ich bin dafür, die Arbeit zu forcieren, um ihn 1990 baldmöglichst einzuberufen. Die Bildung einer Satzungskommission und einer ständig arbeitenden Antragskommission in Ergänzung der bereits gebildeten Arbeitsgruppen des Bundesvorstandes sollte zu unserer nächsten Beratung zur Bestätigung vorgelegt werden. Erste Entscheidungen auf nächster Tagung

Unser Ziel ist es, rechtzeitig vor dem 12. FDGB-Kongress einen neuen Satzungsentwurf, eine neue Wahlordnung und den Entwurf des Beschlusses zur öffentlichen Debatte in den Gewerkschaftsgruppen vorzulegen. Auf unserer nächsten Tagung - mein Vorschlag wäre Ende November - sind dazu erste Entscheidungen zu fällen.

Wir wenden uns von unserer 10. Tagung des Bundesvorstandes du FDGB an alle Arbeiter, Angestellten, Angehörigen der Intelligenz, an unsere jungen Gewerkschafter und Veteranen - lasst uns gemeinsam an die Arbeit gehen!


Annelis Kimmel wurde am 7. Juli 1934 in Hausdorf geboren. Sie entstammt einer Arbeiterfamilie. Kollegin Kimmel ist verheiratet und hat drei Kinder.

Noch Abschluss der Grundschule erlernte die den Beruf eines Mechanikers, studierte später Maschinenbau an dir Ingenieurschule Berlin-Lichtenberg. Von 1958 bis 1959 besuchte die die Komsomolhochschule in Moskau, und von 1973 bis 1976 absolvierte sie die Parteihochschule "Karl Marx" der SED.

Kollegin Kimmel verfügt über umfangreiche praktische Erfahrungen in der politischen Massenarbeit, die sie in ihrer Iangjährigen hauptamtlichen Tätigkeit im sozialistischen Jugendverband und in Funktionen der Partei der Arbeiterklasse, davon viele Jahre in betrieblichen Grundorganisationen, erwarb.

Von 1977 bis 1979 war Kollegin Kimmel Sekretär der SED-Grundorganisation im Glühlampenwerk Berlin und Parteiorganisator des Zentralkomitees der SED für das Kombinat NARVA.

Seit 1979 war sie Vorsitzende des Bezirksvorstandes Berlin und Mitglied des Präsidiums des Bundesvorstandes des FDGB.

Annelis Kimmel ist Mitglied du Sekretariats dir Bezirksleitung Berlin der SED und Abgeordnete der Volkskammer der DDR.

Tribüne, Nr. 217, Fr. 03.11.1989

Die 10. Tagung des Bundesvorstand des FDGB fand am 30.10. und 02.11.1989 statt. Die 11. Tagung des FDGB-Bundesvorstandes berief am 29.11.1989 einen außerordentlichen Kongress des FDGB für den 31. Januar und 1. Februar 1990 nach Berlin ein.

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