Orientierung auf neue Aufgaben nötig

Interessenvertretung der Bürger setzt politische Handlungsfähigkeit voraus

Genau bis zu den Wahlen im Dezember [1990] hat es gereicht, das ganze Gespinst aus Beschwichtigungen und verbalen Kraftakten in Sachen Deutscher Einheit. Höchstens noch den Winter, und dann seien die schlimmsten Probleme überstanden, ohne Steuererhöhungen und Mehrbelastungen, so hieß es. Wer anders argumentierte, wurde der Schwarzmalerei geziehen. Dabei zeichnete sich schon im Herbst die fehlend Investitionsbereitschaft, die Finanznot der Kommunen und die Hilflosigkeit der von Kurzarbeit und sozialer Entwurzelung betroffenen Ex-DDR-Bürger ab.

Was nützt es uns aber, recht behalten zu haben, was das Tempo und die undemokratische Praxis des Schnellanschlusses betrifft? Es ist einer der linken Mythen, von der Not und der Schärfe der Konflikte, als sicherem Hebel für Veränderungswillen und Widerstand der Betroffenen auszugehen. Ohne ein Minimum an Selbstbewusstsein, Solidarisierungswillen und Erfahrung in sozialen Auseinandersetzungen kann solcher Druck auch ins Gegenteil umschlagen; das heißt die Lähmung noch vergrößern und höchstens Verzweiflungsreaktionen befördern. Wer jetzt schon die Grenzen des kaum gewonnenen politischen Spielraums genau voraussagen will und die Beteiligung der Bürgerbewegungen an der "großen Politik" auf Widerstand und Protest reduziert, steckt selbst noch tief in den alten Verhältnissen. Wir müssen es lernen, von beidem zu leben, vom vitalen und respektlosen Antrieb der oppositionellen Frühzeit und von der mit aller Mühsal zu erwerbenden Fähigkeit zu politischer Sacharbeit mit all ihren Kompromissen. Der Anspruch, über die Parteigrenzen hinweg Mehrheiten zu gewinnen und das Prinzip der Runden Tische hochzuhalten, kann nicht als Kampfansage an Parlamentarismus und Parteienpolitik schlechthin gültig werden. Es sei denn, wir ziehen uns in die Wagenburg der einzig wirklichen Demokraten zurück - ein Platz, den uns dann aber bereits andere streitig machen.

Vieles von dem, was sich derzeit zwischen den einzelnen Bürgerbewegungen abspielt, drückt diesen Konflikt aus. Bei allem Hadern mit den Ergebnissen der Wahlen gibt es Tausende von Abgeordneten des Bündnis 90 in den Kommunen, Regionen und Ländern. Sie müssen im Rahmen ihrer äußerst begrenzten Möglichkeiten für konkrete Verbesserungen und eine Sacharbeit mit den Vertretern anderer Parteien eintreten. Dazu brauchen sie die Unterstützung ihrer Organisationen, die sachliche Zuarbeit und den Kontakt mit den anderen politischen Ebenen der Bürgerbewegungen. Gelingt dies nicht, wird binnen weniger Monate der „parlamentarische Arm" der Bürgerbewegungen unter dem Druck der politischen Aufgaben abheben, während eine Vielzahl von Einzelinitiativen und Gruppen "vor Ort" den Abschied aus der Politik vollzieht, an deren Maßstäbe und Tempo man ja doch nicht heranreicht.

Weder das vorschnelle übernehmen der Politikmuster etablierter Parteien noch das Beharren auf dem liebenswerten Chaos des gemeinsamen Anfangs reichen aus, um diesen Konflikt zu bewältigen. Interessenvertretung der Bürger verlangt die Suche nach neuen Formen politischer Handlungsfähigkeit, im Kleinen wie im Großen.

Wolfgang Templin
Initiative Frieden
und Menschenrechte

PODIUM – die Seite der und für die BürgerInnen-Bewegung, Initiativen und Minderheiten, in Berliner Zeitung, Mi. 20.03.1991

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