Berichte über den Parteitag der SPD in Halle am 09.06.1990

Klärung der zentralen Personalfrage, kritische Bestandsaufnahme sowie Diskussion und Fixierung der nächsten Aufgaben - das war die Zielstellung des eintägigen Sonderparteitags der DDR-SPD am 9. Juni in Halle. Zehn Stunden debattierten die rund 500 Delegierten und Gäste, darunter fast die gesamte Spitze der bundesdeutschen Schwesterpartei, unter dem Motto "In sozialer Verantwortung die Zukunft gestalten".

Das Rennen um den neuen Parteivorsitz gewann mit etlichen Längen Vorsprung der einzige Nicht-Pfarrer unter den Kandidaten, der 46jährige Literaturwissenschaftler Wolfgang Thierse, bisher stellvertretender Vorsitzender der Volkskammerfraktion seiner Partei. Im Gegensatz zum neuen Sympathieträger der SPD-Basis stand der bisher amtierende erste Mann, Markus Meckel, unter starkem Beschuss. Dessen Bericht zur Regierungsarbeit wurde in der Aussprache als "unvorbereitete Predigt" charakterisiert. Zudem hielten mehrere Redner dem DDR-Außenminister Karrieredenken vor. Als Meckel aufgerufen wurde, auf die Vorwürfe zu reagieren, fehlte er im Saal . . .

Wiederholt übten Delegierte der Basis Kritik an der Parteiführung, nicht nur wegen der umstrittenen Koalitionsentscheidung.

In Grußworten sprachen sich im Verlaufe der Beratungen sowohl SPD-West-Chef Hans-Jochen Vogel als auch der Ehrenvorsitzende Willy Brandt für die Vereinigung beider Schwesterparteien aus, was große Zustimmung fand.

Einem entsprechenden Antrag, unverzüglich Kontakt aufzunehmen und die Vereinigung herzustellen, stimmten die Teilnehmer zu.

Ein zentrales Diskussionsthema war natürlich der Staatsvertrag. Wie ein roter Faden zog sich durch viele Reden der Wunsch, die Bitte, ja auch die Forderung an die West-SPD, den Staatsvertrag nicht mehr platzen zu lassen. Dennoch war es ausgerechnet die neue Nummer eins, Wolfgang Thierse, die Oskar Lafontaine unter starkem Beifall für seine berechtigte Kritik dankte. Nach Thierse müsse alles dafür getan werden, dass die bevorstehende Vereinigung der beiden deutschen Staaten nicht zu einer Vereinigung für die Unternehmen und gegen die Arbeiter werde. Er stellte - allen Illusionen zum Trotz - klar, dass es, auch sozial gesehen, noch lange "Ossis" und "Wessis" geben werde.

In Presseinterviews auf dem Parteitag sprach sich Thierse für einen zweiten Staatsvertrag aus, in dem die Bedingungen für die Einheitsherstellung nach Artikel 23 GrundgesetzArtikel 23 fixiert werden. Er plädiert auch für eine Volksabstimmung über die zukünftige gesamtdeutsche Verfassung.

In aller Offenheit diskutiert wurden der mangelhafte organisatorische Zustand der Partei und der Mitgliederschwund. Die völlig überschätzte Mitgliederzahl von 100 000 während der Volkskammerwahl wurde jetzt nachträglich mit 36 000 angegeben. Inzwischen hätten 6 000 die Partei wieder verlassen, und ein neuer Zustrom sei nicht in Sicht. In diesem Zusammenhang erscheint der Beschluss, nun doch wieder ehemalige Mitglieder anderer Parteien - auch der ehemaligen SED - nach Prüfung aufnehmen zu wollen, verständlich.

Neues Deutschland, Mo. 11.06.1990, Jahrgang 45, Ausgabe 133


Die Sensation war perfekt am Sonnabendnachmittag beim Sonderparteitag der SPD in Halle: Der in letzter Minute als Außenseiter angetretene Kandidat für den Parteivorsitz Wolfgang Thierse hatte gleich im ersten Wahlgang mit fast Dreiviertelmehrheit gegen seine beiden vom Parteivorstand favorisierten Kontrahenten gewonnen.

Der 46iährige Germanist will sich, wie er unmittelbar nach seiner Wahl sagte, für einen verbesserten organisatorischen Zustand seiner Partei einsetzen und die Verbindung zwischen Basis und Parteiführung wieder enger knüpfen. Die Wahl eines neuen Parteivorsitzenden war notwendig geworden, nachdem Ibrahim Böhme im März nach bisher immer noch unbewiesenen Vorwürfen einer Tätigkeit für die Stasi von diesem Amt zurückgetreten war.

Kritisch bewertete der Großteil der fast 400 Delegierten im Hallenser Gewerkschaftshaus das Wirken von Vorstand, Fraktion und sozialdemokratischen Ministern im Kabinett de Maizière. Im Zusammenhang mit dem ausgehandelten Staatsvertrag zwischen der DDR und der BRD wurde die Frage aufgeworfen, ob das Volk noch deutlich zwischen der SPD und anderen Parteien im Lande unterscheiden könne. Ein deutlicher Mitgliederschwund setze hier Zeichen. Dem widersprach Volkskammer-Fraktionschef Richard Schröder. Deutlich sei seiner Meinung nach die Handschrift der SPD im Staatsvertrag ablesbar. Auf die Frage eingehend, warum die Partei in den Koalitionsverhandlungen nicht auf dem Posten des Innenministers beharrt hatte, verwies er unter dem Protest etlicher Delegierter auf den historischen Vergleich mit Noske. Man wolle nicht das Oberkommando über die Polizei haben, wenn es im Lande zu Unruhen kommen sollte.

Der bisherige amtierende Parteivorsitzende und Außenminister Markus Meckel appellierte an die West-SPD, dem Staatsvertrag doch noch zuzustimmen. Die deutsche Einheit solle so gestaltet werden, dass sie weder von den sozial Schwächeren noch von den Völkern Europas gefürchtet zu werden brauchte. Warum er seinen Bruder zum Personalchef seines Ministeriums gemacht habe, erläuterte er mit der Notwendigkeit einer Besetzung dieses Postens durch eine Vertrauensperson. Auch das dürfte ihm in der Partei keine Sympathiepunkte eingebracht haben.

Scharf ging neben vielen Delegierten der stellvertretende Parteichef Kamilli mit dem Erscheinungsbild der Partei ins Gericht. Nicht nur die Parteiführung sei zerstritten, auch die Basis bröckele. Um die nur etwa 35 000 Mitglieder zählende SPD künftig zu stärken, wurde ein Beschluss des vorhergehenden Parteitags in Leipzig aufgehoben und ehemaligen SED-Mitgliedern die Möglichkeit eingeräumt, nach eingehender Prüfung nun doch der SPD beitreten zu können.

Zustimmung fand auf dem Sonderparteitag ein Antrag, zur beabsichtigten Vereinigung der Ost- mit der West-SPD unverzüglich Kontakt mit der bundesrepublikanischen Schwesterpartei aufzunehmen. Auch ein Antrag über das Recht der Frauen auf selbstbestimmte Schwangerschaft wurde angenommen.

Für einen Volksentscheid über die deutsche Einheit sprach sich vor den Delegierten der SPD-Chef der BRD, Hans-Jochen Vogel, aus. Er machte darauf aufmerksam, dass der Staatsvertrag nun nicht mehr scheitern dürfe, weil sonst ein unbeherrschbares Chaos die Folge wäre". Dennoch benötigte er Ergänzungen und Änderungen, um überlebensfähige Betriebe vor dem Zusammenbruch zu bewahren.

Der Ehrenvorsitzende beider deutscher sozialdemokratischer Parteien, Willy Brandt, nahm in einer Ansprache Lafontaine in Schutz vor Entstellungen, er sei ein Gegner der deutschen Einheit. Er wie auch Vogel verwiesen darauf, dass Lafontaines Einwände nur den von Bundeskanzler Kohl gewählten Weg betreffen.

Berliner Zeitung, Mo. 11.06.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 133


Eigentlich sollte der Sonderparteitag der Ost-SPD in Halle von Freitag bis Sonntag dauern, doch kurz zuvor hatte der für die Durchführung von Parteitagen verantwortliche Vorstand beschlossen, ihn auf einen Tag, den 9. Juni zu begrenzen. Zwei Wochen vor Beginn des Parteitages hatten die Rostocker Genossen einen Antrag auf Verlängerung des Parteitages gestellt, um den Vorstand abwählen und einen neuen bestimmen zu können. Aus Zeitknappheit jedoch - der Tagungsort hatte bis 19.30 Uhr leer zu sein - gehörte dieser Antrag zu jenen Forderungen der Basis, die nicht mehr verhandelt wurden und dem Parteirat zur Entscheidung überwiesen wurden, mit der selbstverständlichen Empfehlung der Antragskommission, den Antrag abzulehnen.

Die Zeit dieses einen Tages wurde jedoch zunächst von der Spitze der Partei benötigt. "Arbeit der Fraktion", Arbeit der sozialdemokratischen Minister" lauteten die Themen. Zu letzterem brachte Außenminister Markus Meckel nichts Konkretes vor, konnte in seiner 40minütigen Redezeit nur die Ressorts sozialdemokratischer Minister aufzählen und als Vorteil der gegenwärtigen DDR-Regierung betonen, dass sie ja nicht so tun müsse, als wolle sie wiedergewählt werden.

Deutlichere Aussagen über die staatspolitische Verantwortung der SPD kamen da schon vom Volkskammer-Fraktionsvorsitzenden Richard Schröder. Der musste natürlich gegen über den Delegierten noch einmal die Koalitionsvereinbarungen verteidigen. Man habe als Juniorpartner nun einmal Kompromisse eingehen müssen, von daher stamme wohl der Eindruck, die SPD lasse sich kaum von der CDU unterscheiden. Auch die Entscheidung der neun Koalitionsunterhändler, das Innenministerium nicht aus der eigenen Partei besetzen zu wollen, erklärte er folgendermaßen: "... und zwar aus einer geschichtlichen Erinnerung: Noske. Wir wollten nicht das Oberkommando über die Polizei haben, wenn es im Lande zu Unruhen kommen sollte."

Der Staatsvertrag, ebenfalls Thema der Reden der beiden Verantwortungsträger, blieb eine "einmalige historische Chance", an der durch unermüdlichen Einsatz der Genossen in Regierungsämtern deutlich sozialdemokratische Positionen erkennbar seien. Von den Parteispitzen äußerten lediglich die Gastredner Vogel und Brandt in Anlehnung an ihren Genossen Lafontaine leise Bedenken an dem Papier in seiner gegenwärtigen Form. Das störte Schröder jedoch nicht, er schloss diesen Punkt ganz pastoral: "Wir sind durch Glück oder durch Gottes Güte in die Lage gekommen, etwas Großartiges gestalten zu kennen."

In Pausengesprächen wurde viel Unmut über die selbstherrliche Art des Vorstands, dessen Desinteresse an der Parteiarbeit vor Ort und seine politischen Entscheidungen deutlich. Am klarsten formuliert wurde das von der Rostocker Alt-Sozialdemokratie Käthe Wolthemath, die die Akzeptanz von Ministern wie Diestel und Wünsche dem Streben von Markus Meckel nach seinem Ministeramt zuschrieb und erklärte, sie hätte die Partei lieber "ehrlich kämpfend in der Opposition gesehen". Es sei kein Grund, aus Angst vor der PDS in die Regierung zu gehen "Wer Angst hat, neben dieser Partei nicht bestehen zu können, wie kann der sich zutrauen, in der Regierungsverantwortung besser zu sein?"

Doch ihr Verständnis von einer sozialdemokratischen Partei schien auch ein anderes zu sein als das der Mehrheit des von Theologen geprägten Vorstands. "Es darf nicht geschehen, dass in einer Partei wie der unseren mit ihren eindeutigen historischen Wurzeln, Rechte sich behaupten, Linke ausgegrenzt oder als Utopisten belächelt werden. Wer sich Sozialdemokrat nennt und das Rot der Fahne nicht erträgt, weil es missbraucht wurde - wer, Genossinnen und Genossen - bei dieser Anrede immer noch zusammenzuckt und sie für immer von sich weisen möchte und nicht bereit ist, unser historisches Werden darin irgendwann zu respektieren, wer nach dem Missbrauch unserer Ideale und Träume von einer gerechten Gesellschaft die selben über Bord werfen möchte, der sollte sich gründlich befragen, ob er auf der für ihn richtigen Seite sieht - Der zum Vorsitzenden gewählte Wolfgang Thierse ist zwar biegsam und hat sich schnell in der Koalitionsverhandlungsgruppe von der Umarmung mit der CDU überzeugen lassen. Doch immerhin vermied er nicht, die Delegierten mit Genossen anzureden, er war kein Vorstandskandidat und kein Pfarrer, das verhalf ihm zur Mehrheit. Gekannt haben die meisten Delegierten ohnehin keinen der Kandidaten. Gemäß Statur hätte eine Information darüber zwar seit vier Wochen zirkulieren müssen, doch zuständig dafür ist der Vorstand.

Peter Grimm

die andere, Der Anzeiger für Politik, Kultur und Kunst, Nr. 21, Mi. 15.06.1990

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