Warum es im Halbleiterwerk Frankfurt (Oder) nicht zum Warnstreik, sondern zum Runden Tisch kam

Streiken
Zeichen setzen
Nacharbeiten ?

Dieser Aufruf hing am Zettelbrett:

W A R N S T R E I K

am 13.12.1989
von 13.00 bis 15.00 Uhr

ZIELE:

- Alle Parteien und Organisationen, bis auf zweckdienliche Gewerkschaften raus aus den Betrieben!

- Abschaffung aller paramilitärischen Organisationen und Vereinigungen!

- Umfunktionierung der Zivilverteidigung in eine
Katastrophenschutz - und Hilfsorganisation!

Eigentlich sollte am heutigen Mittwoch von 13 bis 15 Uhr im Halbleiterwerk Frankfurt (Oder) (HFO) gestreikt werden. So Jedenfalls stand es in einem Aufruf des Initiativkomitees HFO, der am 1. Dezember am Zettelbrett im Gang zum Speisesaal des Betriebes hing. Es war ein Warnstreik vorgesehen. Die vier Forderungen des Komitees:

1. Alle Parteien und Organisationen, bis auf zweckdienliche Gewerkschaften, raus aus den Betrieben.

2. Abschaffung aller paramilitärischen Organisationen und Vereinigungen.

3. Umfunktionierung der Zivilverteidigung in eine Katastrophenschutz- und Hilfsorganisation.

4. Runder Tisch in den Betrieben (Mitbestimmung).

Bei Erfüllung der Forderungen sollte die ausgefallene Zeit nachgearbeitet werden.

Dass der Aufruf nicht sehr lange am Brett hing, hat mit der schnellen Reaktion des Direktors Joachim H(...) zu tun. Er machte sofort im Betriebsfunk seine Haltung zum Streik deutlich: " . . . das Schlechteste in diesen Tagen." Er plädierte dafür, Formen der politischen Willensbildung zu nutzen, die sich in den letzten Wochen bewährt haben. Deshalb seine Einladung an die neuen politischen Gruppierungen zum "Runden Tisch", die von deren Vertretern schon seit längeren gefordert wurde.

Bei diesem Treffen stellte sich schnell heraus, dass zwei der Forderungen schon kein Streitpunkt mehr waren. Über Veränderungen in der Kampfgruppe war bereits zentral entschieden worden, und die Umprofilierung der Zivilverteidigung ist seit Jahresmitte Im Gange. Zum Punkt, Parteien und Organisationen aus dem Betrieb zu entfernen, kam es zu keiner Einigung mit dem Betriebsdirektor, weil er dafür nicht kompetent ist. Doch kurz danach entschied sich dann die SED-Leitung des Betriebes selbst, bis Ende des Jahres ihre Zimmer im Halbleiterwerk zu räumen.

Damit waren alle Forderungen erfüllt, ein Warnstreik überflüssig. Die Initiativgruppe nahm ihren Aufruf zurück. Ist damit das Thema erledigt? Oder kann es nächste, Woche wieder aktuell sein? Das Initiativkomitee behielt sich jedenfalls vor, "dieses Thema, bei Notwendigkeit wieder ins Gespräch zu bringen".

Streik war schon immer eines der äußersten Mittel der Arbeiter, um ihre Forderungen durchzusetzen. Wer sich dazu entschließt, muss dafür gute Gründe haben. Und - wir meinen - erst recht im Sozialismus, wo die Produktionsmittel gesellschaftliches Eigentum sind (wenngleich der einzelne das nicht so direkt spürt und der Begriff vom Eigentümerbewusstsein reichlich überstrapaziert wurde).

Wir versuchten, die Motive der Aufrufer, Für und Wider zum Streik im Betrieb, zu erkunden.

Katja F./Roland L.

Die Folgen nicht bedacht

Fragen an BERND P(...) und ECKHARD F(...)

Warum hat das Initiativkomitee zum Streik aufgerufen?

Es ist ein gewisser Starrsinn der Gesellschaft. Es ging nicht so voran nach der Wende. Deshalb haben wir uns gesagt, so geht das nicht weiter, wir müssen ein Exempel statuieren. Eine Gruppe von etwa zehn Mann aus dem Bereich Entwicklung hat sich für diesen Streikaufruf zusammengefunden. Wir haben extra eine Frist von zwei Wochen gesetzt, damit sich alle Betrieb damit vertraut machen können und damit eine Chance zum Reagieren war.

Wie sollte der Streik praktisch ablaufen?

Zu diesen Überlegungen sind wir gar nicht gekommen, weil der Direktor schon am nächsten Tag reagiert hat. Er hat aber nicht mit uns geredet. Das konnte er auch nicht, weil wir diesem Zeitpunkt noch anonym waren. Auch am Runden Tisch haben wir uns noch nicht als die Initiatoren zu erkennen gegeben.

Wenn Sie die Lage real einschätzen, meinen Sie, Sie hätten einen Streik zustande gekriegt?

Es wären nie alle dabeigewesen, aber es sind auch woanders nie alle. Wir können uns er nicht den ganzen Tag mit Streikanalysen beschäftigen.

Wie haben Sie Ihre Verantwortung gesehen, als Sie zum Streik aufgerufen haben?

Wir haben uns gefragt, was nützt es, wenn wir in acht Wochen ökonomisch am Ende sind oder jetzt in zwei Tagen.

Aber die Forderungen sind doch politisch?

Wieso politisch? Wenn die SED raus ist, sind 40 Planstellen frei. Die 20 Räume, die sie besetzt haben, können wir nutzen, wir sind sehr beengt.

Gab es auch andere Möglichkeiten, diese Forderungen durchzusetzen?

Demonstriert wird ja jede Woche.

Was sagt die Gewerkschaft?

Die ist tot. Bis heute nicht eine Reaktion. Wir sind für eine funktionstüchtige Gewerkschaft.

Wenn's um die Ökonomie geht, sind dann nicht Forderungen nach marktorientierten Strukturveränderungen wichtiger?

Das sind langfristige Dinge. Uns ging es jetzt um Sofortmaßnahmen.

Heißt das nicht, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen?

Wir haben gesagt, es muss ein Zeichen her. Und wenn wir bis dahin gehen, einen landesweiten Generalstreik zu organisieren. Aber das wollten wir uns erst einmal nicht anmaßen.

aus: Tribüne, Nr. 245, 13.12.1989, 45. Jahrgang, Zeitung der Gewerkschaften

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