Wichtige Probleme fehlten in Berichten der Medien

Offener Brief von Stahlwerkern des SKET, Betrieb 36

Wir, die Unterzeichner dieses Briefes, bekunden hiermit unsere Enttäuschung und Empörung über die Art und Weise der Berichterstattung unserer Massenmedien zu einem konkreten uns berührenden Fall.

Wir betrachten es als Ehre, als wir erfuhren, dass das Mitglied des ZK der SED, Genosse Werner Eberlein, am 14. Oktober 1989 gerade zu uns Stahlwerkern des Betriebes 36 im VEB SKET Magdeburg kommt, um mit uns über die Erklärung des Politbüros des ZK der SED zu diskutieren.

Da Gen. Eberlein bereits mehrmals unser Kollektiv besuchte und dabei immer eine ehrliche und offene Diskussion mit uns führte, wird ihm von den Stahlwerkern Hochachtung und Vertrauen entgegengebracht. Wir betrachteten es gleichfalls als eine große Chance, all die vielen Fragen und Probleme, die die Genossen und Kollegen unseres Betriebes seit Monaten bewegen, im offenen Dialog anzusprechen. deshalb gab es für uns überhaupt keinen Anlass für Tabus.

Entsprechend wurde der Dialog auch geführt.

Dabei haben wir auch unseren Willen bekundet, durch hohe Leistungen zur Selbststabilisierung unseres Landes beizutragen. Zu diesen Aussagen stehen wir nach wie vor. Der Verlauf der Aussprache vermittelte uns den Eindruck, dass wir dazu beigetragen haben, den durch die Erklärung eingeleiteten Veränderungsprozess in unserer Gesellschaft voranzubringen.

Umso mehr waren wir betroffen, als wir sahen und lasen, was als Fazit dieses Dialogs in den Medien veröffentlicht wurde. Wir stellen fest, dass einseitig informiert wurde und die Aussagen teilweise nicht in ihrem Zusammenhang dargestellt wurden. Es wurden fast ausschließlich, dafür aber ausführlich Probleme dargestellt, die nur uns Arbeiter angehen und die wir zu verändern haben. Das ist gut und richtig. Aber andere, von uns konkret und eindeutig gestellt Fragen zu den Problemen, die die ganze Gesellschaft seit Monaten bewegen und die Bürger letztlich "auf die Palme" und auf die Straße bringen, fehlen.

So sind wir nicht damit einverstanden, dass die von uns gestellten Fragen und Meinungsäußerungen betreffs der Motivation der Werktätigen zu höheren Leistungen wie Warenangebot, Reisen, Renten u.a.m., die untrennbar mit dem Leistungsprinzip gekoppelt sind, nicht so dargestellt wurden, wie wir sie vorgetragen haben.

Teilweise erfolgten auch falsche Zuordnungen von Antworten und Meinungsäußerungen zu den einzelnen Gesprächsteilnehmern. So sprach z.B. der Genosse Heinz B(...) das folgende Problem an, dass sehr viele unserer Mitbürger stark beschäftigt: "Ich arbeite seit über 30 Jahren hier im Stahlwerk als Schmelzer und würde gern mal mit meiner Frau 10 Tage Urlaub in der BRD machen; ich würde auch selbstverständlich das entsprechende Geld dafür umtauschen ...". Diese Anfrage wird von der "Tribüne" vom 16.10.1989 umkonstruiert in die folgende Argumentation: "Da ich rechnen kann, weiß ich, dass die Erfüllung mancher Reisewünsche wegen fehlender Devisen platzt", sagte Heinz B(...). (Zitat ende)

Auch findet sich in den Medien keine Notiz über die von uns geübte Kritik am Politbüro des ZK der SED zu der langen Periode der Reaktions- und Kopflosigkeit, zum Verlassen unserer Republik durch so viele Bürger, in der komplizierten und angespannten Situation bis zum Erscheinen der Erklärung des Politbüros sowie zu für uns unverständlichen Äußerungen führender Politbüromitglieder über die politisch-ökonomische Lage in unserem Land.

Mit solcher Darstellungsweise ist das Vertrauen unserer Arbeitskollegen in uns und unser Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Medien tief erschüttert worden. Spätestens an dieser Stelle stellt sich die Frage: Offener Dialog - aller Fragen - keine Tabus! Aber in den Massenmedien nur das, was in den Streifen passt?

Im geführten Dialog war das Arbeiterwort gefragt. Es wurde deutlich, offen und ehrlich gesprochen. So hat es sich dann auch in den Massenmedien widerzuspiegeln. Das ist unser gutes Recht. Es gehört eine Portion Ignoranz dazu, dass nach der Veröffentlichung der Erklärung des Politbüros und unserem geführten Dialog eine solche Berichterstattung durchgeführt wurde.

Da wir bei der weiteren Gestaltung der Perspektive unseres Landes das Vertrauen und die Mitarbeit jedes einzelnen brauchen, verlangen wir Unterzeichner, dass dieser Brief in all den Zeitungen, die über unseren Dialog berichteten, veröffentlicht wird.

Magdeburg, den 20. Oktober 1989

Robert B(...)
Heinz B(...)
Siegbert P(...)
Uwe P(...)

aus: Volksstimme, Nr. 253, 27.10.1989, 43. Jahrgang, Organ der Bezirksleitung Magdeburg der SED, Herausgeber: Bezirksleitung Magdeburg der SED

Δ nach oben