Sind im WfTG die Uhren stehen geblieben?

Ich konnte leider nur den ersten Teil der VVV am 5.12.89 über den Betriebsfunk verfolgen.

Ich war und bin noch immer erschüttert. Seit einigen Tagen bin ich nicht mehr Mitglied des FDGB, und darauf bin ich stolz. Mehr als jemals zuvor in der Geschichte der DDR brauchen wir Werktätigen eine wirklich freie Gewerkschaft. Da kann ein Dr. S(...) sich so einfach hinstellen und an die Einsicht der Verwaltungsangestellten appellieren, wenn es um Produktionseinsätze geht, und das schon seit Jahren. Da wird der Mann nicht einmal ausgepfiffen, obwohl so ziemlich jeder im Betrieb weiß, dass nicht nur durch Auswanderung in die BRD das Arbeitskräftedefizit entstanden ist, sondern auch und vor allem die Arbeits- und Lebensbedingungen unserer Produktionsarbeiter teilweise nicht mehr tragbar sind. Warum steht da kein Produktionsarbeiter auf und sagt, wir wollen keine tageweise Hilfe durch Verwaltungsangestellte, wir wollen endlich bessere Arbeitsbedingungen? Und warum steht da keine Gewerkschaft dahinter, die für diese Forderung eintritt? Ich weiß die Antwort - Weil wir einfach nicht die Gewerkschaft haben, die wir brauchen. Warum warten wir noch immer auf einen Impuls von oben?

Da können wir sicher lange warten. Sollten wir Glaswerker tatsächlich nicht in der Lage sein, selbst einmal einen Impuls zu geben, vielleicht auch für andere Betriebe des Territoriums oder des ganzen Landes? Wo sind denn nun endlich die fähigen Leute, die den Mut haben, eine neue freie Gewerkschaft zu gründen? Mitglieder wird es bestimmt geben. Wir dürfen nicht mehr weiter davon träumen, dass uns jemand die Verantwortung abnimmt. Wir Werktätigen müssen endlich die Verantwortung selbst übernehmen.

Viele unserer Kollegen wollen die so genannte Wiedervereinigung. Sind sich diese Kollegen auch der Tatsache bewusst, dass möglicherweise ein bundesdeutscher Konzern einen so unrentabel arbeitenden Betrieb wie unser WfTG einfach schließen kann? Wir würden alle erst einmal auf der Straße stehen. Auch zu dem Thema müsste sich eine akzeptable Gewerkschaft äußern können.

Also, Kolleginnen und Kollegen, lassen wir noch den FDGB weiter seinen Dornröschenschlaf schlafen, 40 Jahre von 100 sind schon verpennt. Macht Euch Gedanken und macht konstruktive Vorschläge zum Thema: Neugründung einer Gewerkschaft.

Ingrid W(...), Arbeitsvorbereitung

aus: Der Glaswerker, Nr. 23, 2. Dezember-Ausgabe 1989, 18. Jahrgang, Herausgeber: VEB Kombinat Technisches Glas Ilmenau