"Potsdamer als Menschen zweiter Klasse behandelt"

Interview mit Carsten Linke von der Potsdamer Bürgerinitiative ARGUS / Verhalten der Westberliner SPD beim Atomreaktor im Hahn-Meitner-Institut (HMI) als "unannehmbar" kritisiert / "Standort von Anfang an falsch gewählt"

Potsdam. Ein GAU kennt keine Grenzen: Eine von DDR-Bürgern aus Potsdam deswegen gestellte Forderung, wenigstens nachträglich am Reaktor-Genehmigungsverfahren beteiligt zu werden, hatte das von der SPD-Wissenschaftssenatorin Riedmüller schon längst sicher geglaubte Projekt erneut ins Gerede gebracht. Während AL-Umweltsenatorin Schreyer dem Antrag der Potsdamer nachkommen möchte, will Riedmüller den Potsdamern lediglich ein Klagerecht nach der Erteilung der Betriebsgenehmigung zugestehen. Die Klage und Bürgerbeteiligung soll nach den Vorstellungen der SPD keinen Einfluss mehr auf den Zeitablauf der Inbetriebnahme haben. Auch ein Brief der Umweltschutzgruppe ARGUS an den Regierenden Bürgermeister Momper, in dem sie um ein persönliches Gespräch bittet, löste keinerlei Reaktion aus. Die taz sprach am Wochenende mit dem Leiter der Arbeitsgruppe "Reaktor", Carsten Linke, vom Umweltschutzbund ARGUS-Potsdam:

taz: Inwieweit sind die Potsdamer bisher informiert, und welchen Stand der Verhandlung habt ihr bis jetzt erreicht?

Carsten Linke: Es sieht momentan so aus, dass die Potsdamer von allem so gut wie nichts wissen und auch nie offiziell in Kenntnis gesetzt wurden. Der entscheidende Punkt ist, und gegen den habe ich auch Klage erhoben, dass die Katastrophenschutzplanung sowohl des alten als auch des neuen Reaktors Potsdam vollständig ausgrenzt. Es gibt bisher nicht einen einzigen Hinweis darauf, dass Potsdam ebenfalls als eventuelles Evakuierungsgebiet mitbehandelt wird, obwohl die Stadt eindeutig im gefährdeten Gebiet des Zwei-Kilometer-Umkreises liegt. Hinzu kommt, dass - wie es bei fast allen Forschungsreaktoren gang und gäbe ist - der Reaktor lediglich ein normales Leichtbaudach hat und somit gegen abstürzende Gegenstände wie beispielsweise Flugzeuge und Hubschrauber nicht geschützt ist. Der Standort Berlin, zudem in unmittelbarer Nachbarschaft eines Militärflughafens, ist von Anfang an falsch gewählt worden. Außerdem fehlt dem Reaktor bisher auch jeglicher Sabotageschutz, und er könnte einem eventuellen terroristischen Anschlag auf keinen Fall standhalten. Aber das ist nur eine von mehreren Auflagen, die man bisher nicht erfüllen kann. Die wichtigste ist das Problem, dass kein Entsorgungskonzept vorhanden ist. Die bisherige Entsorgung der verbrauchten Brennstäbe erfolgte durch eine Wiederaufbereitungsanlage in den USA. Doch amerikanische Bürgerinitiativen setzten sich inzwischen erfolgreich gegen diesen Aufkauf von Atommüll zur Wehr, weil die Wiederaufbereitung nachweisbar militärischen Zwecken diente. Aber auch die neue Alternative, nach Schottland zu entsorgen, käme ebenfalls einer militärischen Aufbereitung gleich. Die Forschung würde somit indirekt Material für den Bau von atomaren Sprengköpfen dienen. Das ist aus unserer Sicht auch unannehmbar.

Mit wem arbeitest du in Potsdam oder auch West-Berlin zusammen?

In Potsdam arbeite ich in der Bürgerinitiative ARGUS, die fast dreihundert Mitglieder hat. In der speziellen Arbeitsgruppe Energie sind ungefähr zwanzig Leute. Ich bin der Leiter der Gruppe, die das bearbeitet, was den Reaktor betrifft. Selbstverständlich arbeiten wir mit den Westberlinern zusammen, vor allem mit der Zehlendorfer Initiative und der Wannseer Bürgerinitiative.

Wenn im Senat am Dienstag die Entscheidung fällt, dann ist das eine rein politische Entscheidung, und es ist eigentlich sehr schade, dass überhaupt keine Sachfragen mehr diskutiert werden. So wie es jetzt steht, werden wir Potsdamer dabei als Deutsche zweiter Klasse behandelt. Früher wurden wir schon aufgrund der Mauer nicht beachtet, so als ob die Mauer auch gleich strahlendicht wäre, und jetzt sollen wir weiter ausgegrenzt werden, und das ist im Prinzip ein Unding.

Interview: Petra Markstein

aus: TAZ-BERLIN Nr. 3102 vom 09.05.1990

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