Vertreter von demokratischen Gruppen Berlins, darunter das Neue Forum, die SDP, die Initiative Frieden und Menschenrechte und die "Kirche von unten" sowie Gewerkschafter von Bergmann-Borsig, besichtigten gestern das Amt für Nationale Sicherheit. In Gesprächen mit Angehörigen verschiedener Dienstbereiche informierten sie sich über die Arbeit des früheren Ministeriums für Staatssicherheit und die Aufgaben der neugeschaffenen Institution. Ihr besonderes Interesse galt der Aufdeckung von Machenschaften, mit denen nach ihren Worten die "Stasi" Bürger in allen Teilen des Landes "bespitzelt" und oft "bedroht" hätte.
Erste Station des Rundgangs durch das Hauptgebäude in der Normannenstraße war die Papiervernichtungsanlage, die seit Montag versiegelt ist. Hier öffnete Militärstaatsanwalt Oberstleutnant Frank Miehalak die Tür. Verbrannt werde hier nichts, schilderte ein Amtsmitarbeiter, weil schon seit Jahren kein Ofen vorhanden sei. Es sei in letzter Zeit allerdings auf technisch andere Weise mehr als sonst vernichtet worden. Darunter hätten sich Schulungsmaterialien, alte Akten und Aufzeichnungen befunden.
Bei einem Meinungsaustausch mit einem wachhabenden Offizier am Eingang Normannenstraße war zu erfahren, dass jede Person und jedes Fahrzeug beim Verlassen des militärisch gesicherten Objekts streng kontrolliert würden, damit keine Unterlagen beiseite geschafft werden können. Nach einem Blick in das Zimmer des Diensthabenden des Amtes, einem Sperrbereich, konnten die Besucher das Dienstzimmer des ehemaligen Ministers Erich Mielke in Augenschein nehmen. Auf den beiden Tischen Bücher, Erinnerungsgeschenke, so ein Fotoalbum über eine Hasenjagd 1981 im Bezirk Erfurt, Karl-Marx- und Feliks-Dzierzynski-Büsten. Ein Teil dieser Materialien mit vielen Fotos des einstigen MfS-Chefs wurde auf Initiative der Bürger vom Militärstaatsanwalt sichergestellt.
Dann eine Begegnung mit dem Abteilungsleiter eines Bereiches, der mit der Fahndung nach Faschisten, der Verfolgung von neofaschistischen und neonazistischen Erscheinungen zu tun hat. In dem danach besichtigten Bereich "Reiseprobleme" wurde erläutert, dass hier über alle Kreisdienststellen und Bezirksverwaltungen Meldungen über Republikfluchten, auch deren Vorbereitung oder der beabsichtigte Versuch, zusammenliefen. Auch hier erklärten die Mitarbeiter nach eindringlichen Fragen der Anwesenden in Bezug auf ihnen bekannt gewordene unliebsame MfS-Praktiken lediglich, jeder habe nur das zu wissen, was er für seine Arbeit brauche.
Im Dienstbereich zur Sicherung der Volkswirtschaft erläuterten Mitarbeiter, dass ihr Kollektiv in mehreren Einschätzungen an die frühere Partei- und Staatsführung auf Deformationen hingewiesen hätte. Ihnen sei es vorwiegend um die Sicherung haveriegefährdeter Objekte der Volkswirtschaft, die Aufklärung von schweren Vorkommnissen sowie um die Spionageabwehr gegangen. Dieser Bereich reduziere seine Mitarbeiter um 40 Prozent. Viele von ihnen arbeiten künftig bei den Grenz- und den Zollorganen oder nehmen eine Tätigkeit in ihren ursprünglichen Berufen auf. "Ich habe in diesem Haus ehrlich und ohne Privilegien gearbeitet", sagte ein leitender Mitarbeiter des Sicherheitsamtes. "Mein Privileg bestand darin, täglich bis zu 12 und 14 Stunden und auch an den Wochenenden zu arbeiten." Hier wie an anderen Stellen fragten die Bürger immer wieder: "Wo sitzen denn eigentlich die Schuldigen? Irgendwo müssen sie doch sein! Und das müssen Sie klären, sonst wird sich das Volk auch gegen Sie wenden."
In der Untersuchungshaftanstalt Magdalenenstraße besichtigten die Bürger Einrichtungen und Zellen.
Zielstellung der gesamten Aktion war es, erst einmal hauptsächlich Einblick zu nehmen in den Untersuchungstrakt, aber auch in andere Gegebenheiten, äußerte Margitta Hinze von der Initiative Frieden und Menschenrechte. Diese Entwicklung mit der Offenheit sollte so weiter fortschreiten, dass sie nicht mehr umkehrbar ist.
(Berliner Zeitung, Fr. 08.12.1989)
Auf vielfaches Drängen von Bürgern und einer Absprache vom Vorabend folgend, besichtigten gestern zehn Vertreter verschiedener Gruppierungen das Gelände des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit in der Normannenstraße. In ihrem Gefolge erhielten auch zahlreiche Journalisten Einlass in die Diensträume des Amtes für Nationale Sicherheit. Der Pressesprecher des Amtes, Stephan Roahl, geleitete die Gruppe in die Räume einer sogenannten Verkollerungsanlage, mit der Papier vernichtet werden kann, sowie in das Arbeitszimmer Erich Mielkes, in die Abteilung zur Fahndung nach faschistisch oder neofaschistisch gesinnten Personen, zur Bearbeitung von Reiseangelegenheiten und in die Untersuchungshaftanstalt.
Mitarbeiter des Amtes für Nationale Sicherheit stellten sich den zum Teil scharfen Fragen der einzelnen Bürgervertreter und denen der Presse. Wie auch in der Diensteinheit zur Sicherung der Volkswirtschaft wurde grundsätzlich von seiten der Angestellten Bedauern über die Tatsache geäußert, dass die Staatssicherheit in der Vergangenheit Instrument einer verfehlten Politik gewesen sei und sich dadurch derart in Misskredit gebracht habe. Andererseits verwiesen verschiedene Geheimdienstler aber auch darauf, seit Jahren bereits auf tiefer liegende Probleme im Lande hingewiesen zu haben, die dann aber auf anderen Ebenen abgefangen bzw. ignoriert worden seien.
Trotz sichtlicher Bemühungen des Amtes, Misstrauen zu zerstreuen, blieben allerdings solch heikle Punkte wie etwa die Bespitzelung von Bürgern und Überwachung von Personen unberührt, weshalb sich ein großer Teil der Besucher schließlich unbefriedigt zu dem Rundgang äußerte.
Pressevertretern wurde gleichfalls ein Brief von Markus Wolf an den Präsidenten der Volkskammer übergeben, in dem er zur Besonnenheit auch gegenüber den Mitarbeitern der ehemaligen Staatssicherheit aufgerufen wird, um Exzesse von Lynchjustiz zu vermeiden.
(Neue Zeit, Fr. 08.12.1989)