OFFENER BRIEF

Sehr geehrter Herr Stolpe!

Dass Betroffene in die Akten ihres Geheimdienstes einsehen und somit erstmalig die Macht von innen durchschauen können, ist ein einmaliger Vorgang in der Geschichte. Allen düsteren Prognosen zum Trotz sind wir mit dem neuen Wissen verantwortungsvoll umgegangen - es ist kein Blut geflossen, es gab keine Lynchjustiz.

Schwierigkeiten gibt es trotzdem im Umgang mit den Akten und mit der Bewertung der Akten. Die Akteneinsicht hat Konsequenzen. Persönliche Schuld, aber auch falsche Verdächtigungen werden offenbar. Auch die Verstrickungen von Kirche, Partei und Geheimdienst werden deutlich...

Aber schon längst ist das kein Problem der DDR mehr, sondern ein gesamtdeutsches. Die Zusammenarbeit der politisch Mächtigen aus dem Osten mit den politisch Mächtigen aus dem Westen hinter verschlossenen Türen und ihre Verstrickung in die Aktivitäten unseres Geheimdienstes sind nicht mehr zu verheimlichen...

Sowohl in der alten DDR als auch jetzt haben Sie, Herr Stolpe, eine exponierte Position innegehabt. Wir sind uns in der Bewertung der Vorwürfe, die Ihnen gegenüber erhoben werden, nicht ganz einig - sind jedoch der Überzeugung, dass eine offene Antwort auf die folgenden Fragen und eine offensivere Aufklärung der Verflechtungen zwischen Partei, Staat, Kirche und westlichen Politikern durch Sie wesentlich zum Verständnis von Vergangenheit und Gegenwart beitragen würde. Sie sind sicher mit uns der gleichen Meinung, dass nichts für die Kirche, für die SPD und das Zusammenfinden der Menschen aus Ost und West schlimmer wäre, als jetzt noch zu verschweigen, zu vertuschen und zu lügen.

1. Welche Rolle hat die Kirche in ihrer Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen bezüglich des Umgangs mit oppositionellen Gruppen übernommen? Was war der Gegenstand von Absprachen zwischen Staat und Kirche in diesem Zusammenhang, mit wem wurde verhandelt und von wem hatten Sie das Mandat zu diesen Verhandlungen?

2. Warum haben Sie bisher so wenig dazu beigetragen, das alte System zu verstehen und faire Spielregeln im Umgang mit den "Tätern" zu entwickeln? Was wissen Sie darüber, welche Rolle Schnur und de Maizière für Bürger, Staat und Kirche gespielt haben?

3. Wie können wir erreichen, dass Kirche im vereinten Deutschland sich einmischt

- in das Ringen um Emanzipation, Mündigwerden des einzelnen, wie kann sie den einzelnen dazu ermuntern, sich zu wehren und Verantwortung zu übernehmen?

- als Anwalt der Schwachen, der über den Tisch Gezogenen und Hoffnungslosen?

- für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung auf der Seite der Betroffenen gegenüber den Verantwortlichen?

Und das alles aber transparent, mit offenem Visier, ohne Geheimdienste und Seilschaften, in deutlicher Zurückhaltung von Macht und Geld.

Wir laden Sie im Namen des Berliner NEUEN FORUM zu einem öffentlichen Gespräch in die Gethsemane-Kirche ein und bitten Sie nachdrücklich, dafür einen Termin in der Zeit vom 10.2.-23.2.92 vorzuschlagen.

Mit freundlichen Grüßen
Bärbel Bohley
Sebastian Pflugbeil

(Manfred Stolpe hat sofort nach Erhalt der Einladung signalisiert, dass er sie annimmt. Der Termin war bis Redaktionsschluss noch nicht bekannt.)

aus: Die Andere, Nr. 6, 05.02.1992, 3. Jahrgang, Unabhängige Wochenzeitung, herausgegeben von Klaus Wolfram