Sie werten die SED auf

Ein offener Brief des Regisseurs und Sprechers der DDR-Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt", Konrad Weiß, an Bundeskanzler Kohl.

DOKUMENTATION

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

der Jahreswechsel gibt Gelegenheit zum ruhigen Bedenken all dessen, was sich in den vergangenen Wochen in meinem Deutschland so stürmisch ereignet hat. Sie selbst, Minister Ihrer Regierung und Vertreter Ihrer Partei, sind in diesen Wochen in der Deutschen Demokratischen Republik gewesen und haben mit Vorschlägen und Verhandlungen Einfluss auf die Umgestaltung unseres Landes genommen.

Diese Aktivitäten sehe ich wie viele meiner Freunde aus den neuen oppositionellen Parteien und Bewegungen außerordentlich kritisch. Sie, Herr Bundeskanzler, haben in Ihrem Amtseid geschworen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Nach meiner Auffassung aber führen Sie durch Ihre Politik Schaden für das deutsche Volk in der DDR herbei.

Denn zu Ihren bevorzugten Gesprächs- und Verhandlungspartnern haben Sie Vertreter jener Parteien erwählt, die unser Land in die Krise geführt haben. Auch wenn die Damen und Herren, mit denen Sie heute sprechen, persönlich integer sein mögen, so tragen sie doch als langjährige Mitglieder oder Funktionäre der SED, der CDU oder der anderen Blockparteien politische Verantwortung für die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen, für den tausendfachen Bruch der Verfassung der Gesetze unseres Landes und für schwerwiegende politische Fehlentscheidungen. Viele mögen zudem durch Duldung oder gar Begünstigung an den persönlichen Verbrechen der Parteifunktionäre Mitschuld tragen.

Sie selbst, Herr Bundeskanzler, haben mit Herrn Modrow weit reichende Verhandlungen geführt. Sie haben dabei außer Acht gelassen, dass die Regierung von Herrn Modrow nicht von den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes legitimiert ist. Es ist eine Übergangsregierung, die nicht befugt und nicht beauftragt ist, Entscheidungen für die Zukunft unseres Landes zu treffen. Verträge, die von dieser Regierung ausgehandelt und geschlossen werden, sind anfecht- und aufkündbar. Uns, den Vertretern der demokratischen Opposition, ist es unverständlich, dass der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland und Vorsitzende der CDU mit Herrn Modrow, der dafür nicht das Mandat des Volkes in der Deutschen Demokratischen Republik hat, über eine künftige Vertragsgemeinschaft der Deutschen verhandelt.

Diese Ihre Politik, Herr Bundeskanzler, hat dazu beigetragen, die Regierung Modrow und damit die SED aufzuwerten. Sie haben sich zum Wahlkampfhelfer für jene Partei gemacht, die die Hauptschuld für die Krise unseres Landes trägt und auf Jahre hin den Anspruch auf politische Verantwortung verloren haben sollte. Wie ist diese Unterstützung der SED mit Ihrem Mandat und Ihrem Regierungsprogramm, wie mit dem Parteiprogramm der CDU vereinbar, Herr Bundeskanzler?

In gleicher Weise unterstützen Sie die Wiederbelebungsversuche der hiesigen CDU. Auch diese Partei ist in den zurückliegenden Jahrzehnten politisch und moralisch verkommen und hat die Untaten der SED mitgetragen und gestützt. Es ist ein Schande, dass sie sich noch eine "christliche" Partei nennen darf. Es ist beschämend, dass die CDU auf ihrem jüngsten Parteitag nicht einmal den Versuch unternommen hatte, sich ehrlich mit der eigenen schuldbeladenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Sie, Herr Bundeskanzler, und Ihre Parteifreunde aber suchen unbekümmert um das Vergangene den Kontakt zu Gremien und Funktionären dieser Partei und verhelfen ihr so zu neuem Ansehen. Während Sie einerseits also der SED und der CDU politische und propagandistische Hilfestellung leisten, wird die demokratische Opposition von Ihnen, Ihrer Regierung und Ihrer Partei weithin negiert. Sie haben zwar, Herr Bundeskanzler, in Dresden auch Vertreter der oppositionellen Parteien und Bewegungen empfangen. Aber Sie waren nicht wirklich bereit, auf das zu hören, was wir Ihnen zu sagen hatten, oder Kritik anzunehmen, sondern haben monologisiert und uns Ihre Sicht auf die DDR aufgedrängt.

Auch protokollarisch und vor den Medien haben Sie eindeutig die SED und deren Vertreter favorisiert, die Oppositionsbewegung aber benachteiligt. Und weder zur Vorbereitung noch zu den Gesprächen selbst, die Sie mit der Übergangsregierung Modrow geführt haben, wurden die oppositionellen Parteien und Bewegungen gehört oder eingeladen. Ich halte das für eine sehr kurzsichtige Politik, Herr Bundeskanzler. Wir beanspruchen und wünschen keine Unterstützung von Ihrer Regierung oder Ihrer Partei, aber wir dürfen doch zumindest erwarten, dass Sie der neuen Opposition bei ihren Bemühungen um eine Demokratisierung unseres Landes nicht in den Rücken fallen.

Erlauben Sie mir abschließend noch einige Worte zur Tendenz Ihrer Deutschlandpolitik. Einige Äußerungen Ihrer Parteifreunde haben in den zurückliegenden Wochen bei Bürgerinnen und Bürgern hierzulande die Illusion genährt, eine Wiedervereinigung stünde vor der Tür. Sie selbst haben durch unscharfe Formulierungen und durch Ihren Zehn-Punkte-Plan diesen Eindruck unterstützt. Ich halte das für unredlich. Wer verantwortlich über die Zukunft der Deutschen spricht, kann doch nicht die begrenzte Souveränität der deutschen Staaten, die ganz anders gearteten Interessen der europäischen Nachbarn, die Einbindung in militärische und politische Bündnisse oder die zahlreichen innenpolitischen Hindernisse, die einer schnellen Vereinigung entgegenstehen, verschweigen - auch wenn das unpopulär ist und den Verlust von Wählerstimmen bedeutet.

Gemeinsam mit meinen politischen Freunden aus der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt habe ich mich für eine künftige Einheit der Deutschen ausgesprochen; unser Dreistufenplan der nationalen Einigung liegt auch Ihrer Regierung vor. Eine neue Einheit aber kann nach unserer Auffassung nur das Ergebnis beiderseitiger Reformen, einer langsamen Annäherung und der Abstimmung mit den europäischen Nachbarn, sein. Die wirkliche Demokratisierung der DDR ist hierfür eine unabdingbare Voraussetzung. Es wäre fatal, wenn durch die personelle oder thematische Verlagerung des bundesdeutschen Wahlkampfes in die DDR unsere Bemühungen um die Demokratisierung behindert oder gefährdet würden.

Ich bitte Sie, dies zu bedenken.

Mit freundlichen Grüßen,
Konrad Weiß

die tageszeitung 06.01.1990

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