Grüne aus dem Schneider-betr.: LeserInnenbriefe, taz vom 17.10.91

betr.: LeserInnenbriefe,

taz vom 17.10.91

Die Stasi war für die Westler ein Ostproblem - auch für die Grünen. Jetzt, nach der Enttarnung von Dirk Schneider springen sie im Quadrat. Neben verständlicher persönlicher Betroffenheit und Verärgerung wird die Debatte dazu missbraucht, mal wieder mit dem politischen Gegner innerhalb der eigenen Partei abzurechnen.

Besonders die Diskussion um die Zweistaatlichkeit wird als ferngesteuert dargestellt und in verschiedenen Leserbriefen an die taz werden Christian Ströbele, Jürgen Reents, Gabi Gottwald und Harald Wolf stellvertretend als Stasi-Ideologen denunziert. Die Unterstellung, fremdgesteuert zu sein, ist der DDR- Opposition gut bekannt. Die Stasi war immer der Meinung, die Oppositionellen könnten nicht selber denken und alle Aktionen und Ideen wären vom Westen gelenkt gewesen.

Dirk Schneiders Position, die Zweistaatlichkeit Deutschlands anzuerkennen, soll es jetzt gewesen sein, die die ganze Partei (mit Ausnahmen) davon abgehalten hat, die DDR-Opposition als gleichwertigen Partner anzuerkennen. Seine damaligen Kontrahenten verengen das Problem jetzt auf die Spitzeltätigkeit. Sie scheinen davon auszugehen, dass die Stasi nur Linke anwarb und haben ihre Überraschung also noch vor sich.

Wenn, wie in etlichen Stellungnahmen behauptet, Dirk Schneider Einflussagent war, so kann er diesen Einfluss auf die Politik der Grünen/AL nur durch ein Eingreifen in ihre offene politische Debatte ausgeübt haben. Kurz: Die politischen Entscheidungen der Partei waren ihre souveränen Entscheidungen, die sie politisch selbst zu verantworten hat.

Dirk Schneider befand sich mit seiner Position der Zweistaatlichkeit in Übereinstimmung mit der Mehrheit der Grünen, mit seiner Deutschlandpolitik insgesamt aber immer in der Minderheit. Es stellt sich also völlig unabhängig von Dirk Schneider und der Stasi die Frage, wieso dem grünen Selbstverständnis, solidarisch mit der Opposition in Osteuropa zu sein, so wenig konkrete Handlung folgte, für viele Grüne also Nicaragua näher lag als Osteuropa oder die DDR.

Die Stellung der Zweistaatlichkeit sagte noch nichts aus über die Haltung der osteuropäischen Opposition, für die dieses Thema übrigens damals keine Streitfrage war. Sie ging immer von der Existenz zweier deutscher Staaten aus und verstand ihren Widerstand als blockübergreifenden Widerstand von unten gegen die Herrschenden in Ost und West.

Wenn die Grünen es ernst meinen mit einer Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte und ihrem Verhältnis zur osteuropäischen Opposition, kann die Diskussion nicht mit ideologischen Keulenschlägen und Denunziationen geführt werden. Stillschweigendes Revidieren eigener Positionen und falsche Darstellung anderer Haltungen sind Geschichtsklitterung.

Die Forderung von Ludger Volmer, Dirk Schneider vor Gericht zu zerren, ist gleichbedeutend mit einer Aufforderung an alle Grünen, vor der Staatsanwaltschaft gegen ihn auszusagen. Dies richtet sich gegen die (ehemals?) eigene antirepressive, gegen staatliche Abstrafungsideologien gewandte Politik. Vielleicht auch ein später Sieg der Stasi? Die notwendige Debatte kann nicht an die Staatsanwaltschaft delegiert werden.

Unsere Auseinandersetzung mit der Stasi ist nicht Selbstzweck, nicht Befriedigung von Rachegefühlen, und sie dient auch nicht der Auffüllung von Gefängniszellen. Wir wollen eine gesellschaftliche Atmosphäre, in der Denunziantentum geächtet ist und nicht durch Kronzeugenregelung, rechtsstaatliche V-Leute, Wanzen und Richtmikrofone gefördert werden.

Irena Kukutz, MdA Neues Forum, ehemals "Frauen für den Frieden"; Marion Seelig, MdA PDS, VL, Kirche von unten; Carsten Wiegrefe, nicht organisierbarer Noch-taz-Abonnent; Harald Wolf, MdA PDS, ehemals AL; Bernd Teorath, Neues Forum, ehemals SED; Reinhard Schult, MdA Neues Forum, ehemals "Gegenstimmen"; Tina Krone, Neues Forum, ehemals Friedenskreis Friedrichsfelde; Vera Vordenbäumen, ehemals AL; Udo Wolf, ehemals AL; Thomas Klein, VL, ehemals Friedenskreis Friedrichsfelde; Dieter Hummel, ehemals Grüne Baden-Württemberg

taz Nr. 3543, vom 25.10.1991