Demokratischer Aufbruch

Ehrhart Neubert, geb. 1940, Theologe und Soziologe, Referent beim Bund der evangelischen Kirchen in der DDR, stellv. Vorsitzender des "Demokratischen Aufbruch", lebt in Ost-Berlin.

Frage: Die erste Gruppe des "Demokratischen Aufbruch" wurde im August 1989 in Dresden gegründet. Heute haben Sie bereits über zwanzigtausend Mitglieder im ganzen Land. Acht der neun Gründungsmitglieder arbeiten bei der evangelischen Kirche. Wie ist dieser starke Einfluss der Kirche zu erklären?

Antwort: In den letzten Jahren haben sich in und am Rande der Kirche eine Fülle von politisierten Gruppen gebildet, die einerseits hier Unterschlupf fanden und andererseits von ihren eigenen Interessen her aus der Kirche kamen: Sie waren deshalb auf die Kirche angewiesen, weil sie die letzte sinnproduzierende Instanz dieses Landes war, die nicht von dem allmächtigen SED abhängig war. Aus dieser informellen Szene heraus ist dann das gewachsen, was wir heute die politische Opposition nennen. Die politische Opposition hat auch noch andere Quellen, und sie hat Zuwachs aus der Gesellschaft bekommen, aber ihr Anfang lag zweifellos in der informellen Gruppenszene und in der evangelischen Kirche.

Gibt es aufgrund dieser Geschichte Ihrer Gruppe eine spezifische Zusammensetzung?

Ja, am Anfang und auch heute noch spürbar waren und sind es Leute, die einen unmittelbaren Zusammenhang mit der evangelischen Kirche haben. Das ist auch eine Frage der kulturellen Identität, die es durchzuhalten galt in unserem Land. Aber sehr rasch haben dann auch andere Menschen Anschluss gesucht und gefunden, zum Beispiel Einzelgruppen von Arbeitern, Facharbeitern, bäuerlicher Bevölkerung, Handwerkern. Sie machen heute einen starken liberal-konservativen Flügel des "Demokratischen Aufbruch" aus. Aber wir haben auch linke Intellektuelle in unseren Reihen, die zum Teil aus dem künstlerischen Bereich kommen - Theaterleute, Schriftsteller, Maler, Graphiker, vor allen Dingen auch eine ganze Reihe von ehemaligen SED-Genossen, die zum Teil aus idealistischen Gründen in die SED gegangen waren, dann unzufrieden, frustriert waren und die schließlich bei uns angekommen sind. Von der Mitgliedschaft her sind wir heute ein bunter Haufen mit großem Spannungsbogen von links-ökologisch bis liberal-konservativ, vom Intellektuellen bis zum Arbeiter.

So etwas wie eine Volkspartei also?

Ja, wir haben lange überlegt, ob wir das zusammenhalten können und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass, wenn es uns gelingt, diesen Spannungsbogen durchzuhalten und auch produktiv zu machen, wären wir so etwas wie eine Volkspartei. Eine Volkspartei im modernen Sinne, denn es gibt die Arbeiterklasse, die bürgerliche Schicht oder die Bauernschaft im klassischen Sinn in der DDR ja nicht mehr. Diese Klassen und Schichten sind allein schon durch die Politik der SED dahin. Insofern muss eine Partei ihre Mitglieder in allen möglichen Milieus suchen und sich ihnen als Plattform politischer Willensbildung anbieten.

Sie haben sich bewusst zum Bleiben in der DDR entschlossen. Sie setzen auf die politische Veränderung, auf eine Demokratisierung in der DDR. Welche Schritte halten Sie dabei in den nächsten Wochen für vordringlich?

Wir müssen einerseits die Partei organisieren, das ist eine wichtige Funktion innerhalb des Demokratisierungsprozesses, denn wenn wir die Gesellschaft demokratisieren wollen, müssen wir auch die Kräfte organisatorisch erfassen, die die Subjekte dieser Demokratisierung sein werden. Insofern ist das nicht nur Eigeninteresse, es ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe.

Zum zweiten müssen wir an vielen Stellen politisch aktiv werden. Es gibt bei uns eine Art Machtvakuum, das wir zum Teil selbst geschaffen haben, denn unsere Mitglieder und Sympathisanten waren an der Aufhebung des Staatssicherheitsdienstes und an vielen anderen Dingen beteiligt. Dieses Vakuum müssen wir jetzt konstruktiv füllen, wir müssen versuchen, dort Politik zu machen, wo sie niemand mehr macht. Das heißt, dass viele unserer Leute in Untersuchungskommissionen, an den "runden Tischen" auf allen Ebenen arbeiten und dass unsere Leute zu den Bürgerkomitees gehören, um Einfluss zu gewinnen. Unsere Mitglieder beginnen jetzt auch, die Gewerkschaftsarbeit in den Betrieben zu reorganisieren, beziehungsweise auch schon Betriebsräte zu bilden. Da sehen wir ein ganz großes Manko: Es gibt nämlich nur ganz wenige Belegschaften, die es geschafft haben, Betriebsräte zu bilden und eine unabhängige Gewerkschaftsarbeit aufzubauen. Das wollen wir unterstützen und in Gang setzen, denn inzwischen fließt ungeregelt und ohne gesetzliche Absprachen immer mehr westliches Kapital ins Land. Es werden praktisch schon Weichenstellungen vorgenommen, die nicht mehr rückgängig zu machen wären, wenn eine neue demokratische Regierung an die Macht käme. Wir wollen keine Billigkolonie des westlichen Kapitals werden und möchten gerne vom Sozialplan angefangen bis hin zur Gewerkschaftsarbeit kompetent werden.

Gibt es konkrete Schritte, die in den nächsten Wochen notwendig sind, um etwa den "Ausverkauf" von Grund und Boden oder Kapitalbeteiligung zu kontrollieren und in kontrollierte Bahnen zu lenken?

Wir versuchen es. Wir haben einen Forderungskatalog aufgestellt und an die Regierung gegeben und werden das auch am "runden Tisch" fordern. Wieweit wir uns durchsetzen können, wissen wir nicht, aber wir hoffen, dass wir zusammen mit anderen oppositionellen Gruppen oder Parteien ein Stück weiterkommen. Wir haben aber auch die Bürger und die Arbeiterschaft aufgerufen, so schnell wie möglich zu Gewerkschaftsbildungen zu kommen. Ich sehe da zwar in mancher Hinsicht ein bisschen schwarz, aber wenn die Menschen in dieser Hinsicht schnell genug politisiert werden, könnte vielleicht noch das Schlimmste verhütet werden. Davon hängt auch ein Stückchen die Zukunft der DDR ab. Wenn es uns nicht gelingt, hier politisch Fuß zu fassen, so dass wir Mithandelnde werden, dann wird das System der DDR tatsächlich vollständig zerfallen.

Sie haben das Thema "Gewerkschaften" angesprochen, sie wollen also Betriebsarbeit leisten, in die Betriebe hineingehen und dort Mitbestimmungsrechte und Einflussmöglichkeiten für Arbeitnehmer schaffen?

Ja, wenn es uns gelingt. Es muss allerdings rasch gehen. Wir haben durch einige Aufrufe versucht, diesen Prozess in Gang zu setzen; das zeigt schon Wirkung - in manchen Betrieben geht es los, aber noch ohne Konzeption und ohne genaue Orientierung. Auch hier läuft alles überstürzt und überhastet.

Zielen die Vorstellungen mehr auf eine Reformierung der bisherigen Gewerkschaften oder auf die Gründung neuer, unabhängiger Gewerkschaften, die sich dann möglicherweise wieder auf gesamtstaatlicher Ebene der DDR zusammenschließen?

Es wird auf beides hinauslaufen. Einerseits wird die alte Gewerkschaft, der FDGB, versuchen, sich zu reformieren. Dieser Prozess, der mit personellen Fragen beginnt und mit Strukturfragen endet, hat bereits eingesetzt. Andererseits bilden sich auch von unten Gewerkschaften. Es gibt interessante Prozesse. Sogar in der Polizei - das ist eine der wichtigsten politischen Gewerkschaftsentwicklungen - beginnt sich jetzt eine Gruppe zu konstituieren, die eine Gewerkschaft aufbauen und die aktiv an der Entpolitisierung der Volkspolizei mitarbeiten will. Das ist natürlich keine Fortsetzung der Arbeit des FDGB, das hat eine vollkommen neue Qualität.

An diesem Wochenende konstituiert sich der "Demokratische Aufbruch" offiziell als Partei, gibt sich ein Programm. Wesentlicher Grund der Krise der DDR ist der wirtschaftliche Niedergang. Auf diesem Gebiet werden in den nächsten Wochen weitreichende Entscheidungen zu treffen sein. Wie soll die ökonomische Krise überwunden werden?

Dazu muss man etwas Grundsätzliches sagen. Das Programm des "Demokratischen Aufbruch" ist ein langfristiges Programm. Wir versuchen, eine Wirtschaftspolitik für längere Zeiträume zu strukturieren - in der Hoffnung, dass wir diese Zeit auch haben werden. Wir wollen alle überflüssigen Bremsen aus den Wirtschaftsmechanismen herausnehmen und eine wirklich freie Marktwirtschaft haben - allerdings mit bestimmten Begrenzungen oder besser mit politischen Kriterien, die für eine freie Marktwirtschaft gelten müssen, das sind soziale und ökologische Kriterien. Man könnte also die langfristige Politik des "Demokratischen Aufbruch" mit dem Kunstwort "sozialökologische Marktwirtschaft" beschreiben. Mir scheint, dass diese Form des Wirtschaftens für alle Industriegesellschaften angezeigt ist. Wir wären gern von Anfang an konsequent, weil bei uns die ökonomische zugleich auch eine ökologische Krise ist.

Wir kommen nicht mehr darum herum, bei jeder wirtschaftlichen Maßnahme auch die ökologische Gretchenfrage zu stellen. Die Krise ist in dieser Hinsicht schon zu weit fortgeschritten. Unsere Möglichkeiten, noch weiter auf Kosten der Natur zu wirtschaften, sind gleich Null. Insofern hat das neue Programm, das dem Parteitag im Entwurf vorliegt, einen stark ökologischen und sozialen Einschlag, ohne allerdings auf liberale Wirtschaftsmechanismen zu verzichten zu wollen. Bei den kurzfristigen Maßnahmen, die jetzt getroffen werden müssen, sind zwei Dinge zu beachten: auf der einen Seite, dass wirtschaftliches Handeln rational und dynamisch wird, und zum anderen, dass die Wirtschaft befreit wird von Bürokratien und vom Außenhandelsmonopol des Staates - der SED also. Das muss einhergehen mit einem Sozialplan, der verhindert, dass die kommenden Erschütterungen finanzpolitischer Art im Sozialwesen katastrophale Schäden anrichten.

Im Zuge eines Umbaus der Wirtschaft werden womöglich wenig effektive Betriebe geschlossen werden müssen, es wird wahrscheinlich zu Entlassungen, zur Arbeitslosigkeit kommen. Wie wollen Sie dieses Problem auffangen?

Wir wissen, dass die kommenden Arbeitslosen in den Fabriken und in den bürokratischen Apparaten gesessen haben. Wir möchten, um der Wirtschaftlichkeit willen, ehrlich sein: Betriebe, die unrentabel sind, werden sich auf die Dauer nicht halten können. Das kann natürlich nicht alles holterdipolter gehen und darf nicht so geschehen, dass Menschen schwer sozial geschädigt werden. Deshalb muss es einen Sozialplan geben. Alle wichtigen ökonomischen Maßnahmen brauchen eine soziale Begleitung. Wenn die Bundesrepublik und andere westeuropäische Länder uns helfen wollen, dürfen sie nicht nur im Auge haben, dass hier eine Wirtschaft wieder flottgemacht werden muss, sondern sie müssen auch wissen, dass es hier um die Schicksale von einigen Millionen Menschen geht. Es ist also nicht nur Wirtschaftshilfe sondern auch Sozialhilfe zu leisten. Wenn die Westdeutschen bisher von den Brüdern und Schwestern im Osten geredet haben, möchten wir gern, dass sich das hier einmal konkret bewahrheitet. Es soll nicht nur die private Wirtschaft hier einsteigen, es müssen dann auch die guten und hervorragenden sozialen Schutzinstrumente westlicher Politik mitgebracht werden.

Woran denken Sie konkret?

Dass zum Beispiel unsere Altersrenten gestützt werden müssten, auch mit westdeutschem Geld. Dass die Abwanderung von Fachkräften in irgendeiner Hinsicht ausgeglichen werden müsste und viele andere Dinge, die bei uns aus dem Lot geraten, wenn es zu einer freien Wirtschaft kommt. Das muss von Westdeutschland mitgetragen werden. Es gibt hoffnungsvolle Ansätze im umweltpolitischen und medizinischen Bereich - das muss schnell auf die sozialen Probleme ausgeweitet werden.

Wesentliche Sozialleistungen werden in der Bundesrepublik auf dem Solidaritätsprinzip aufgebaut. Zum Beispiel: Um Arbeitslosengeld beanspruchen zu können, muss ich vorher arbeitslosen versichert sein. Das trifft auf DDR-Bürger zunächst nicht zu. Schlagen Sie also sozusagen einen Geldtransfer vor, so dass zum Beispiel die Bundesanstalt für Arbeit oder die Bundesregierung eine bestimmte Zahlung dafür an die DDR leistet, dass junge und leistungsfähige DDR-Bürger in die Bundesrepublik abwandern?

Ja. Obwohl wir das nicht als eine Art Reparation verstanden wissen wollen, obwohl wir einräumen, dass die SED an dieser Misere Schuld ist, und obwohl wir einsehen, dass es sehr schwierig ist, von irgendjemand anderem so etwas zu verlangen, geht es jetzt darum, die gesamte Situation in beiden deutschen Staaten dauerhaft zu stabilisieren, auch in Europa zu stabilisieren. Europa kann sich eine DDR mit schwerwiegenden sozialen Problemen gar nicht leisten, eben sowenig wie Europa sich ein Polen leisten kann, in dem eine wirtschaftliche und soziale Katastrophe eintritt. Es müssen vielfältige Wege gesucht werden, um soziale Katastrophen zu verhindern. Ich kann nicht konkret sagen, ob die Bundesanstalt für Arbeit dafür eintreten müsste - wie das im einzelnen zu regeln ist, müsste verhandelt werden.

Jedenfalls brauchen wir differenzierte Versicherungsmodelle für unsere Arbeitnehmer und dazu bedarf es der strukturellen Hilfe.

Sie haben einmal gesagt, dass die Übernahme einer kapitalistischen Marktwirtschaft für die DDR nicht vorstellbar sei: Sie haben auf das Beispiel Umweltpolitik hingewiesen und gesagt, dass in der kapitalistischen Marktwirtschaft der Bundesrepublik eine der Ursachen dafür zu sehen sei, dass die DDR zur größten Müllkippe Europas geworden sei. Würden Sie sich wirtschaftspolitisch dennoch weitgehend an das "Modell" Bundesrepublik anlehnen?

Wir brauchen die Wirtschaftsmechanismen der freien Marktwirtschaft, damit die Wirtschaft tatsächlich in Schwung kommt. Allerdings müssen wir dabei die ökologischen Kriterien beachten, weil wir an die Belastungsgrenzen angekommen sind.

Wir brauchen zum Beispiel eine Möglichkeit zur Entsorgung der Müllkippen, die die SED verschuldet hat, aber woran der Westen mitgearbeitet hat. Wer soll das finanzieren? Ich denke, dass ein Vertragssystem mit Westdeutschland und den europäischen Ländern gefunden werden muss. Wir müssen in der DDR von vornherein mit politischen Eingriffen in die Wirtschaft rechnen. Auch die Währung können wir nicht ohne weiteres freigeben. Wir können nicht einfach die westdeutschen Verhältnisse kopieren. Das würde katastrophal. Wenn ich heute, anders als vor ein paar Monaten, glaube, dass wir uns nicht in jeder Hinsicht gegen eine Marktwirtschaft nach westlichem Muster sträuben können, dann deshalb, weil die SED uns in eine Krise gestürzt hat, von deren Ausmaß wir keine Ahnung hatten. Es gibt kaum noch Bereiche, die effektiv arbeiten. So steht zum Beispiel die Versorgung mit Energie, ebenso wie viele andere Dienstleistungen, vor dem Zusammenbruch. Die DDR insgesamt steht vor einer wirtschaftlichen Katastrophe. Da muss ich ganz pessimistisch sein.

Der Entwicklungsspielraum der DDR ist entscheidend auch von der Sowjetunion abhängig. Bisher haben die führenden Kreise in der UdSSR die Entwicklung mit relativ großem Wohlwollen und mit Zurückhaltung beobachtet. Das könnte sich bald ändern. Es gibt Anzeichen für Übergriffe auf Militäreinrichtungen der UdSSR in der DDR. Der mögliche Austritt aus dem Warschauer Pakt wird diskutiert. Werden damit nicht Interessensphären der UdSSR massiv berührt? Wie sehen Sie das Verhältnis DDR - Sowjetunion?

Das ist ein sehr sensibler Bereich. Es kommt darauf an, wie die beiden deutschen Staaten sich annähern und dass sie es in einem europäischen Rahmen tun, so dass weder die Nachbarn im Westen noch die im Osten Angst haben müssten - ich denke vor allen Dingen an Polen, mit dem wir übrigens von Anfang an auch ökonomisch solidarisch sein sollten. Und zweitens denke ich an die Sowjetunion. Mit einer solchen Politik würde in Europa eine friedenspolitische Weiche gestellt. Es ist keine Annäherung der deutschen Staaten möglich, weder in politischer noch in wirtschaftlicher Hinsicht, nach der man weitermachen könnte wie bisher, insbesondere in der Militärpolitik. Anders gesagt: Warschauer Vertrag und NATO müssten erhebliche Abstriche machen. Ich wage zu behaupten, dass ein Annäherungsprozess auf eine Neutralisierung Deutschlands und eine faktische Entmilitarisierung hinausläuft. Das wäre ein enormer friedenspolitischer Schritt, der die Konfrontation an zentraler Stelle abbaut.

Als nächstes könnte dann das riesige Potential an chemischen, biologischen, atomaren und konventionellen Rüstungsgütern aufgehoben werden. Dagegen könnten weder die Polen noch die Franzosen oder die Beneluxstaaten sein, der Konflikt Warschauer Pakt/NATO wäre damit entschärft, der West/Ost-Konflikt abgeschwächt, und man könnte sich dem dringenden Nord/Süd-Problem zuwenden. Insofern glaube ich, dass auch die Sowjetunion langfristig Nutznießer einer solchen Entwicklung wäre, die die beiden deutschen Staaten aufeinander zugehen lässt.

Könnte dieser Prozess langfristig eine Wiedervereinigung bedeuten?

Ja, auch wenn das Wort Wiedervereinigung historisch nicht ganz korrekt ist. Es wird eine deutsche Republik geben. Deren Grenzen werden gegenüber den Nachbarstaaten und Europa insgesamt ohne allzu große Bedeutung sein. Dieser Staat wird im wesentlichen eine Verwaltungseinheit sein. In ihm werden starke dezentrale politische Kräfte wirken, Länder wie Thüringen, Sachsen oder Mecklenburg werden nach einer Verwaltungsreform zum Beispiel wieder eine eigene Identität gewinnen. All das passt durchaus in die mitteleuropäische Landschaft hinein. Das bringt nicht nur für die Deutschen, die ja eine Kulturnation sind und eine gemeinsame Geschichte und Sprache haben, Erleichterung, es bringt für die Europäer insgesamt vielleicht einmal einen Kulturmittler zwischen Ost und West.

Manche Beiträge innerhalb der Wiedervereinigungsdiskussion vermitteln eher den Eindruck, als gehe es um einen "Anschluss" der DDR an die Bundesrepublik. Sehen Sie das als Gefahr?

Ich sehe das als Gefahr. Ein "Anschluss" würde ja bedeuten, dass alles viel zu schnell ginge und dass wir hier in der DDR sozusagen mit leeren Händen dastünden. Wenn wir uns aus der Krise, aus dem Chaos heraus uns an die Bundesrepublik anschließen müssten, dann ist das eine große ökonomische Gefahr. Auch politisch sehe ich eine Gefahr, weil wir dann bestimmte europäische Fragen nicht lösen könnten - die Rüstungsfragen zum Beispiel, aber auch ein Problem, das mir besonders am Herzen liegt: die polnische Frage. Die Anerkennung der polnischen Westgrenze muss im Einigungsprozess der beiden deutschen Staaten von vornherein feststehen. Die Einigung Deutschland muss politisch eindeutig mit dem Festschreiben dieser Grenze verbunden werden.

Für Sie ist also eine eigenständige Entwicklung in der DDR wichtig. Welche Erwartungen haben Sie an die Bundesrepublik hinsichtlich einer Unterstützung eines solchen eigenständigen Reformprozesses?

Ich erwarte, dass die Bundesrepublik besonders auf die Kräfte achtet, die eine politische Legitimation haben oder sich erwerben. Eine verantwortungsvolle Politik muss Wert darauf legen, dass ökologische und soziale Probleme, die bis jetzt nicht geregelt sind, gleichzeitig mit dem Kapitalfluss bedacht und gelöst werden.

Und welches sind die Erwartungen an die Gewerkschaften in der Bundesrepublik? Können auch sie den Reformprozess unterstützen?

Die Gewerkschaften der Bundesrepublik sollten Kontakte zur Opposition und zu den entstehenden Gewerkschaftsgruppen bei uns aufnehmen, man soll Strukturhilfe geben, Erfahrungen vermitteln. Außerdem muss überlegt werden, an welchen Punkten man womöglich gemeinsam Forderungen stellen kann - zum Beispiel dann, wenn die westdeutsche Wirtschaft versuchen sollte, billige Tarife bei uns zu nutzen. In solchen Fragen muss es eine gewerkschaftliche Zusammenarbeit geben, weil sie nicht auf politischer Ebene gelöst werden können.

Ein erstes Gespräch führte Wolfgang Templin Ende Oktober 1989. Ein weiteres Gespräch führte Stephan Hegger am 15. Dezember 1989 in Berlin.

aus: Gewerkschaftliche Monatshefte Nr.12/1989

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