Endlich gibt es ein DDR-Staatsvolk

taz: Die Opposition hat auf die Öffnung der Mauer eher zurückhaltend reagiert, Bärbel Bohley zeigte sich sogar offen entsetzt. Steckt sich dahinter möglicherweise der Beginn einer neuen Entfremdung gegenüber der Gesellschaft?

Wolfgang Ullmann: Ich kann für die "Bürgerbewegung Demokratie Jetzt" nur sagen, dass wir die Freude der Bevölkerung uneingeschränkt teilen. Wir sind überrascht worden, das müssen wir auch sagen, aber die Öffnung der Mauer ist eine der ältesten Forderungen unserer Initiative "Absage an Prinzip und Praxis der Abgrenzung", aus der sich "Demokratie Jetzt" entwickelt hat. Die Mauer ist natürlich das wichtigste Symbol der Abgrenzung. Insofern ist unsere Reaktion eine ganz andere als die von Bärbel Bohley.

Vielleicht war die Äußerung von Bärbel Bohley etwas ungeschickt offen, aber hat sie nicht doch getroffen, was die Opposition insgeheim befürchtet - den Ausverkauf der DDR?

Ich denke, ihre Sorge war die, dass die Euphorie der Bevölkerung jetzt das politische Bewusstsein erschüttern könnte. Ich teile diese Sorgen nicht, ich habe so viele Leute gesprochen in West-Berlin oder auch hier, die sich ganz klar ausgesprochen haben, dass man jetzt, nachdem die Grenzen geöffnet sind natürlich nun nicht zur Tagesordnung der alten DDR wieder übergehen könne. Ich glaube nicht, dass das so erstaunlich offenbar gewordene politische Bewusstsein angesichts der Freude über Westreisen wieder aus unserem Lande verschwindet.

Sie würden eher sagen, die Gesellschaft ist resistenzfähig gegenüber den vom Westen her angebotenen Verlockungen?

Ja, ich denke sogar, in einem ungeahnt hohen Maße. Ich hätte das früher unserer Bevölkerung auch nicht zugetraut, aber nach den Erfahrungen des Oktober und November bin ich da viel optimistischer.

Woraus entspringt diese Euphorie, mit der die neue Freiheit aufgenommen wurde? Spielt da nicht doch, neben der Freude über neue Konsum- und Reisemöglichkeiten, auch so etwas wie nationales Zusammengehörigkeitsgefühl eine Rolle? Ihr Freund Konrad Weiß hat die Szenen am letzten Wochenende einen "Beweis für die Einheit der Nation" genannt.

Das Wort Einheit der Nation ist in den Augen eines Historikers ein politisch sehr belasteter Begriff, den ich nicht gerne verwenden würde. Ich möchte es viel einfacher ausdrücken: Es ist ein elementares Gefühl der Freude darüber, dass Menschen, die durch alle möglichen bürokratischen Schikanen und letztlich eben durch den Entzug eines Teils ihrer Grundrechte gehindert waren, zusammenkommen.

Wenn dieses Zusammengehörigkeitsgefühl sich jetzt unbehindert festigen kann, wird dann nicht doch die Aufhebung der Zweistaatlichkeit zu einer politischen Option auch in der DDR?

Das halte ich keineswegs für zwingend, sondern es zeigt sich ja jetzt schon, dass in dem Maße, wie man hin- und herfahren kann, der Druck in Richtung auf ein endgültiges Verlassen des Landes eben spürbar nachgelassen hat. Wenn die Grenzen durchlässig sind, dann weiß ich nicht, welche politische Notwendigkeit besteht, gegen diese Grenzen, die ein wichtiger Stabilitätsfaktor der Nachtkriegsepoche sind, anzugehen?

Ist die Resistenz gegenüber den Wiedervereinigungswünschen, die aus dem Westen kommen werden, nicht auch davon abhängig, wie weit der Reformprozess und besonders die ökonomische Entwicklung vorankommen? Kann sich das nicht sehr schnell umkehren?

Hier muss man vorsichtig sein mit Voraussagen. Ich möchte zwei Worte kommentieren: Das eine ist das Wort "Wiedervereinigung". Da habe ich mehrere Einwände. Zunächst gegen das "Wieder". Die Bürger beider deutschen Staaten werden darüber zu befinden haben, wie ihr Verhältnis zueinander staats- und völkerrechtlich geregelt sein wird, und niemand wird sie daran hindern können. Aber wenn wir auch einmal davon ausgehen, dass beide deutsche Staaten eine politische Einheit - in welcher Form auch immer - werden sollten, dann wäre das eine Einheit, die es so in der deutschen Geschichte noch nicht gegeben hat.

Und ich denke, viele Leute, die von einer Wiedervereinigung sprechen, gehen - ohne sich dabei etwas zu denken - von der These der Präambel des Grundgesetzes aus, das Deutsche Reich habe nach 1945 weiterexistiert, nur gewisse Teile seien von dem getrennt worden und könnten nun wieder mit ihm vereinigt werden. Diese Voraussetzungen halte ich alle für grundsätzlich falsch: Das Deutsche Reich ist 1945 zugrundegegangen, und entstanden sind aufgrund der damaligen politischen Lage zwei selbständige Staaten. Die Hauptfaktoren der damaligen Situation sind nach wie vor gültig. Wenn man eine neue Einheit formen wollte, stünden wir vor einem ganz schwierigen völker- und staatsrechtlichen Problem. Darüber sollte man sich im klaren sein.

Das zweite ist das Wort "Resistenz". Wir empfinden, zumal unter den jetzigen Bedingungen, gar keine Resistenz gegenüber der Bundesrepublik, im Gegenteil. Wir sind ja auf Hilfe und Zuwendung gerade im wirtschaftlichen Bereich durchaus angewiesen und wissen das auch. Aber wir sind eben DDR-Bürger und haben vierzig Jahre hinter uns, eine Geschichte, die zu jenem Moment am 4. November geführt hat, wo nun in einer ganz unideologischen Weise, ganz anders als das die SED sich je gedacht hat, ihre These vom Staatsvolk der DDR auf einmal Wirklichkeit wurde, in dem jene Million um den Alexanderplatz herum sagte: Wir sind das Volk.

Das ist eine ganz wichtige historische Tatsache, von der ich wünsche, dass sie nie wieder in Vergessenheit gerät, und die auch ihre politische Geltung behalten sollte, nicht gegen die Bundesrepublik, sondern mit ihr zusammen, so ist meine Hoffnung.

In der Frage der Souveränität zieht die Opposition mit der SED an einem Strang?

Ja, ich schäme mich nicht, das zu sagen. Wir hoffen ja auch, dass es in der SED reformwillige Kräfte genug gibt, damit wir mit ihnen zusammen das durchführen können, was wir vorhaben: eine Wahlrechts- und Verfassungsreform. Insofern ist das gar kein Widerspruch. Im übrigen gehöre ich zu den Leuten, die gar kein Hehl daraus machen, dass sie sich in bezug auf die antifaschistische Grundentscheidung immer an der Seite der Kommunisten auch in unserem Lande gewusst haben.

Das Interview führte Matthias Geis

TAZ Nr. 2966 vom 18.11.1989

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