"Ich habe keinen Anker mehr"

Michael Bartoszek, 41 Jahre alt, Vater dreier Kinder und von Beruf Chemiker, gehörte mit zu den Aktivisten der früheren DDR-Opposition. Als Mitbegründer und späterer "Kanalarbeiter" von "Demokratie Jetzt" hat er sich im Herbst 1989 verstärkt in die politische Arbeit gestürzt. Vor einigen Wochen ist er erst einmal "abgetaucht", wie er sagt, hat sich eingeigelt und schreibt. Über die Enttäuschungen und Zweifel, Unsicherheiten, Ängste und Hoffnungen eines nachdenklichen "Revolutionärs" der ehemaligen DDR Interview: Vera Gaserow

taz: Michael, kannst du dich noch erinnern, was du am 9. November 1989 gemacht hast?

Michael Bartoszek: Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Ich war relativ früh zu Hause und erfuhr dann von meiner Frau, da wär irgendwas mit der Mauer. Meine Tochter hat sich gleich auf den Weg gemacht, um das genauer zu erkunden. Mir fiel es in dem Moment eher schwer, meine Gefühle richtig zu sortieren. Nachts habe ich dann noch einen Anruf bekommen von einem Freund aus West-Berlin, der ganz euphorisch war. Ich selbst war schlicht verunsichert. Das war ein merkwürdiger Widerspruch der Gefühle: Auf der einen Seite war das genau das, wofür wir jahrelang gestritten hatten. Aber plötzlich hatte ich das Gefühl, da wird uns auch etwas aus der Hand gerissen. Ich hatte Angst, dass wir, die Leute, die in der DDR auf die Straße gegangen waren und auch was erreicht hatten, plötzlich nicht mehr diese solidarische Gesellschaft sein würden, wie sie sich oberflächlich in den Monaten des Sommers und Herbstes '89 gezeigt hatte. Ich hatte sofort die Idee: Mensch, jetzt gehen sie alle auf den Ku-Damm. Ich hätte mich gerne mitgefreut, aber ich konnte noch nicht richtig.

Ich bin erst einen Tag später nach West-Berlin rübergegangen. Da hab ich die Maueröffnung ganz tief innerlich als Freude erlebt. Es war einfach ungeheuer schön dort bei Freunden in Kreuzberg in einer Wohnstube sitzen zu können nach einem spontanen Entschluss. Das waren schöne und spannende Tage. Ich habe täglich probiert, wie viel weniger Kontrolle es von Tag zu Tag gibt und manchmal bin ich einfach nur hin und hergegangen. Allein das Gefühl, die Weihnachtspost einfach in West- Berlin einstecken zu können, war etwas unheimlich Tolles. Diese Gefühlslage hätte ich mir gerne lange erhalten wollen, denn das ist für mich das Entscheidende: die Freude von Menschen über die Möglichkeit zusammenzukommen. Aber das Ganze hat den Menschen wenig Zeit für das Ausleben dieser Gefühle gelassen. Ich weiß nicht, wie man's hätte anders machen können. Und trotzdem ist so vieles so schnell versunken und einfach abgesoffen im täglichen Alltag und den Konflikten, die dann plötzlich auftauchten.

Haben sich deine gemischten Gefühle des 9. November im Nachhinein bestätigt?

Ich hab immer Angst, arrogant zu wirken, wenn ich sage: Es hat sich doch vieles von meinen ängstlichen Gefühlen bestätigt. Obwohl ich auch glaube, dass ich an jenem Tag und auch später nicht genügend sehen konnte, dass es im Grunde genommen von den Gefühlen der Menschen her, nicht anders zu machen gewesen wäre. Die Frage, die mich in den letzten Monaten sehr stark bewegt hat, ist: Was war das eigentlich, unser eigener politischer Einsatz? Wie viel haben wir eigentlich von den Leuten verstanden? Heute denke ich: verdammt wenig. Man muss das ganz selbstkritisch sagen: Die Gesellschaft, in der wir gelebt haben, war keine Gesellschaft, wie sie sich in den Monaten Oktober/November präsentiert hat. Dass die Leute - ganz gleich welcher sozialer Bindung oder Herkunft - nebeneinander auf die Straße gingen, der Arbeiter neben dem Lehrer, das war nur eine Scheinwirklichkeit. Wir hatten vorher nichts miteinander zu tun und haben es auch jetzt nicht. Und wir Leute, die in die politische Arena gestiegen sind, wussten oder fühlten nicht, wie es einer Mutter mit zwei Kinder geht, die im Kabelwerk arbeitet oder einem Arbeiter, der Kohle schrubbt.

Das ist ja keine angenehme Erfahrung, sich das klar machen zu müssen. Wie geht's einem damit?

Ich glaube, da findet jeder eine andere Lösung für sich, das zu reflektieren. Für manche ist die Lösung, sich mit dem Kopf da einzuarbeiten, sich ins politische Geschäft zu begeben. Für mich war es dann - überlagert auch von ganz persönlichen Konflikten - wichtig, mich aus der Politik zurückzuziehen. Ich brauchte die Zeit für mich, das zu verarbeiten und das in irgendeiner Form auch zu artikulieren. Das fiel mir in den letzten Wochen nicht unbedingt leicht. Aber ich muss mich selber erst einmal wiederfinden und sehen: Wo bin ich nun eigentlich? Ich kann diese Gefühlslage nur schwer beschreiben, weil sie auch einfach ein wenig dumpf uns sprachlos war. Ich habe vom Herbst bis Mai bei Demokratie Jetzt mitgearbeitet, im Büro, habe dort Zeitung gemacht, Wahlkampf, alles was da so anfiel. In dem Moment, wo ich dort ausgestiegen bin, war es so, als ob man mitten im Laufen anhält, sich umschaut und nicht so genau weiß, in welcher Gegend man überhaupt ist. Man steht da und sucht atemlos nach Orientierungspunkten. Man ist erschöpft und kann sich nicht konzentrieren auf die Wahrnehmung der Dinge, die um einen passieren. Man kann sie nicht einordnen, man kann den Ort an dem man steht, nicht beschreiben. Ich habe das Gefühl, als ob für mich in den letzten Wochen und Monaten etwas erst richtig deutlich wurde, worüber ich vorher eher mit intellektuellem Anspruch lamentiert habe: das sogenannte DDR-Syndrom. Ich dachte, ich hätte die letzten Jahre in der Auseinandersetzung mit der Obrigkeit das System auch überwunden. Jetzt habe ich plötzlich das Gefühl: es hat auch bei mir ganz schön gewirkt. In dieser schlagartig veränderten Situation verlässt einen die Phantasie. Alles stimmt nicht mehr, und ich weiß nicht, wo muss ich meinen Anker hinwerfen. Vorher hing der Anker an der Auseinandersetzung mit dem System. Jetzt ist das System weg, der Anker ist mit abgerissen und ich habe im Moment keinen Anker mehr.

Woran spürst du, dass auch du unter diesem DDR-Syndrom leidest?

Das fängt mit der Frage an: Was passiert mit deinem Job? Mit 70prozentiger Sicherheit wird der in den nächsten Wochen oder Monaten weg sein. Plötzlich merke ich, dass eine Lockerheit im Umgang mit den Dingen nicht mehr da ist. Ich habe kein richtiges Gefühl dafür, wo der Ort ist, an dem ich mich einfügen könnte. Das fängt damit an, eine Aktivität zu entwickeln. Zu sagen: das interessiert mich, ich geh dahin, ich investiere da. Dann die Frage: Was sind das für Leute, mit denen du da reden müsstest. Sind das Leute, die dich über den Tisch ziehen oder nicht. Man hat Angst den Partnern, den man dort gegenübersteht, in allen möglichen Bereichen nicht gewachsen zu sein. Die Sprache fehlt, das Wissen. An manchen Stellen meine ich, dass schon etwas überwunden zu haben, denn gerade in der Anfangsphase von Demokratie Jetzt kriegte man doch eine ganze Menge Selbstbewusstsein. Aber dieses Gefühl von Selbstsicherheit ist auch wieder verloren gegangen.

Und das passiert nur in Auseinandersetzung mit Leuten aus dem Westen?

In erster Linie ja. Wenn sich eine ähnliche Stimmung mit Leuten aus der DDR aufbaut, bin ich nicht so verunsichert. Da weiß ich, bei welchen Temperaturen die ihr Süppchen gekocht haben. Dennoch frage ich mich manchmal, wenn ich Leute sehe, die sich sehr schnell den Stil und die Sprache des Westens abgeguckt haben: Taugst du überhaupt für so eine Art von Gesellschaft, wie sie jetzt entsteht? Bist du der gewachsen? Wenn ich diese Leute sehe, die so schnell das Auftreten von drüben übernehmen, habe ich oft plötzlich keine Lust mehr, mich mit denen auseinanderzusetzen. Das ist immer noch so ein Schwanken zwischen Rückzug und Suche.

Wie rettest du dich daraus?

Im Moment ist Rückzug, ist Einigelung angesagt. Ich habe im Frühjahr '89 angefangen, mich mit einem längeren Prosastück zu beschäftigten. Ich wollte versuchen, die Isolationssituation eines einzelnen zu beschreiben und dann sind die äußeren Ereignisse drübergerutscht. Jetzt habe ich mich wieder darauf gestürzt. Das Schreiben ist für mich - neben dem notwendigen Broterwerb - die einzige Möglichkeit, die Unsicherheit zu artikulieren. Das kann ich am besten im Dialog mit mir und dem Papier.

Ist da auch ein Stück Verbitterung?

Ich gebe mir immer schrecklich Mühe, nicht verbittert zu sein, und ich glaube das gelingt mir auch ein bisschen. Ich kann mich irgendwie zurückziehen und finde Löcher, in denen ich mich aufhalten kann. Nein, Verbitterung ist nicht meine Gefühlslage.

Was wäre die denn?

Ich glaube im Moment nur Verunsicherung und Nicht-Bereitschaft mich in den öffentlichen Raum zu begeben, sondern mich eine Weile nur mit mir selbst zu beschäftigen. Es nützt ja auch nichts Blasen zu machen, wenn die aus einem Hohlraum kommen.

Hast du noch das Gefühl, in der DDR zu Hause zu sein, eine Verbundenheit mit dem Land und seinen Leuten?

Ich habe geschwankt zwischen verschiedenen Extremen. Es gab eine Phase, wo ich gesagt habe: am liebsten würde ich nach Kreuzberg ziehen. Weg hier. Wenn, dann richtig reingehen und sehen wie's geht. Und in Kreuzberg würde ich mich in meinen Heimatgefühlen noch am sichersten fühlen. Kreuzberg ist ein bisschen Terrain, wie ich mir die DDR hätte vorstellen können.

Aber warum weg aus der DDR? Weil du dich nie da zu Hause gefühlt hast?

Nein, ich habe mich hier immer zu Hause gefühlt. Ich habe immer gesagt, ich würde hier nicht weggehen, und es gab viele Anfechtungen. Aber es gab nach der Wende eine Phase, da hatte ich das Gefühl, mit dem Zerfall der politischen und ökonomischen Strukturen zerfällt auch die ganze DDR-Gesellschaft. Sie wird atomisiert und es ist überhaupt nicht klar, bis heute nicht, wie sich dort neue Strukturen herausbilden sollen. Da hab' ich schon das Gefühl, es wäre leichter, in eine andere Welt zu gehen, wo schon Strukturen gewachsen sind und wo ich mir suchen kann, wo mein Netz ist, während in der DDR erst einmal Vereinsamung angesagt ist. Wenn ich heute darüber nachdenke spielt aber auch die Frage hinein: Wäre ein solcher Umzug nicht eine verspätete Flucht? Und verspätet fliehen, das möchte ich nun doch nicht. Bisher hieß es ja auch immer, dass die DDR als Phänomen verschwunden ist, einfach weg , aber sie ist nicht weg.

Ist das tröstlich zu wissen, die DDR ist noch da?

Ich kann das noch nicht genau konkretisieren, aber ich habe das Gefühl: hier ist noch eine Aufgabe. Dieses Phänomen DDR ist noch nicht hinreichend beschrieben. Ich glaube es bedarf noch viel Nachdenkens, Beschreibens und Analysierens, was das eigentlich gewesen ist, die DDR, und was uns weiter prägt. Das Verhältnis zwischen Täter und Opfer, all diese Fragen müssen erst einmal gestellt und beantwortet werden. Das braucht einfach Zeit und ich denke, es ist wichtig da zu bleiben und da dran zu bleiben.

Wenn du deine Mitmenschen beobachtest, wie nimmst ihr Verhalten war?

Ich finde man spürt ganz deutlich, dass es DDRscher denn je ist. Die scheinbare Aufgabe und der Wille zur Aufgabe der DDR-Identität war vielleicht ein gerechter Wunsch von Menschen. Aber er ist nicht mit einer Absichtserklärung zu erledigen. Die Auseinandersetzung mit den ganz konkreten Gegebenheiten führt einfach dazu, dass man sich mit anderen Phänomenen beschäftigen muss. Aber das ist das DDR-Spezifische, dass es alle tun und alle ganz ähnlich. Das fängt bei den Fragen an, die man hat, bei den Unsicherheiten, sich zu äußern. Auch die abwartende Haltung, die nicht unbedingt ein Nicht- Wissen oder Nicht-Wollen ist, hängt mit unserer nicht vorhandenen Vorstellungskraft zusammen. Es gibt auch eine Unlust, etwas zu tun. Und die Leute, die was tun, tun das dann auch nicht locker oder mit Lust und Laune, sondern eher verkniffen und treten dann auch. Es werden plötzlich Hackordnungen festgelegt, ganz anders als früher, und es findet auch eine Entsolidarisierung statt, klein und unscheinbar, ein tägliches Tröpfchen. Jeder hat Angst, dass er der erste ist, der fliegt, wenn er den Mund aufmacht. Man versteckt sich hinter den eigenen Ängsten, die man von früher kennt. Ein selbstbewusstes Aufbegehren findet nicht statt.

Hast du selber seit dem letzten November eigentlich ein Gefühl von Befreiung?

Dieses Gefühl von Befreiung war deutlich und als Gefühl richtig beschreibbar zwischen November und Ende Januar. Da gab es das Gefühl: Was immer passiert, da kommt uns keiner mehr ran. Unsere Zähne sind inzwischen lang genug. Aber dieses Gefühl ist danach verschüttet worden von einem Politikgeschehen, das die eigene Handlungsfähigkeit und das eigene Selbstbewusstsein wieder überdeckt hat. Dieses Gefühl von Aufatmen ist plötzlich verraucht, weil jeder sich um seine Steuerkarte kümmern muss oder darum, in welcher Versicherung er nun eigentlich ist. Da kann man nicht mehr an Befreiung denken, sondern fühlt sich eher neu eingegrenzt. Ich glaube, es bedarf noch einiger Zeit, um das Gefühl der Befreiung wirklich wieder wahrzunehmen und auch zum Bestand der eigenen Geschichte zu machen.

Wie geht es dir selber, wenn du an die Zukunft deiner Kinder denkst?

Was mich und meine Familie angeht, bin ich gerade dabei das Gefühl von Ängstlichkeit abzulegen. Ich sage eher: Scheiß drauf, es wird schon gehen. Was die Kinder anbetrifft, finde ich es schade, dass das alles so lange gedauert hat. Mein Sohn ist 12 und da ist einfach schon viel Mist passiert. Er hat einfach schon ein paar Jahre in unseren Schule hinter sich. Aber insgesamt ist es wirklich keine Frage, dass jetzt für meine Kinder eine bessere Zukunft sehe, als wenn der Karren einfach so weiter gelaufen wäre. Natürlich weiß ich nicht, wo meine Kinder mit 21 sind, ob wir sie über Konflikte retten können, dass sie nicht zwischen Drogen, Alkohol oder einer Jugendsekte landen. Aber für die unmittelbare Zukunft bin ich für die Kinder eher zuversichtlich.

Wenn du dir vorstellst, wie deine Umwelt in den nächsten zwei, drei, vier Jahren aussehen wird, was stellst du dir da vor?

Ich kann eigentlich nur Hoffnungen formulieren und wenn ich Hoffnungen formuliere, glaube ich auch immer ein bisschen dran, dass sie Stückchen Realität werden. Meine Hoffnung ist, dass die DDR eben nicht Nordrhein-Westfalen oder Bayern ist und auch nicht wird. Das ist keine politische Wertung. Ich glaube, dass die Geschichte nachwirkt und dass auch der Ort auf den Menschen wirkt. Und der Ort hier ist anders als Bayern oder Hamburg. Damit meine ich, dass der Osten hier präsent ist. In Westdeutschland ist das einfach ein intellektuell oder ökonomisch beschreibbares Phänomen, aber hier ist der Osten körperhaft da, und das ist die einzige Rettung für Deutschland.

Mit dieser Meinung stehst du aber ziemlich allein. Die meisten Leute haben eher Ängste vor "dem Osten".

Natürlich, aber es ist doch die einzige Hoffnung, dass hier nicht Europa zu Ende ist, dass daneben kein Abgrund ist zur Dritten Welt. Klar gibt es die Ängste, aber daneben gibt es etwas, was doch phantastisch funktioniert: Da haben die Ostler sich aufgeregt, dass die Polen die Kaufhäuser stürmten und kaum hatte sich das Blatt gewendet, da überrollten Tausende von DDRlern die kleinen Grenzstädte. Das bedeutet doch, dass die DDR-Deutschen nicht irgendwelche völlig unüberwindlichen ideologischen oder chauvinistischen Hürden haben. Es gibt Möglichkeiten, miteinander in Kontakt zu kommen.

Hast du für dich selber einen Traum?

Den kann man ganz kurz zusammenfassen: Ich möchte gern mit Gelassenheit, mit Sicherheit und Treffsicherheit den richtigen Satz aufschreiben können, in gutem Stil und in einer vollen Sprache. Wenn mir das gelänge hätte ich auch das Gefühl, im Umgang mit mir selbst eine Sicherheit zu bekommen.

aus: taz Nr. 3255 vom 07.11.1990

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