"Sinnvoll profilieren kann sich eine neue SED am besten in der Opposition"

Stephan Bickhardt, Mitbegründer der Oppositionsbewegung "Demokratie jetzt", zur Zukunft der SED / Eine Koalition mit der SED nach der Wahl schließt er aus

taz: Auf dem SED-Parteitag am Wochenende wird ein Programmentwurf vorgelegt, der auch von der Opposition stammen könnte. Irritiert Sie das?

Stephan Bickhardt: In erster Linie steht das Programm in Opposition zur Vergangenheit der SED. Ob es aber ein Programm ist für eine neue und demokratische DDR, daran habe ich doch meine Zweifel. Mein Eindruck ist, dass die SED unter welchem Namen sie auch immer auftreten wird - eine Partei der Reformintellektuellen sein wird. Die Tendenz, dass sich die Arbeiter aus dieser Partei absetzen, wird auch weiter anhalten. Für mich stellt sich die Frage, wie es die SED anstellen will, dass sich ihre Mitglieder das neue Programm auf freie, mündige Weise aneignen. Ich vermute, dass ein intellektuell gefasstes Reformprogramm wieder auf dirigistische Weise von oben nach unten durchgesetzt werden muss. Auch bezweifle ich, dass dieses Programm aus einer breiten, demokratischen, innerparteilichen Diskussion erwächst. Und an dieser Stelle hat die Opposition, auch wenn sie bis jetzt noch kein einheitliches Wahlprogramm vorgelegt hat, die besseren Karten.

Das ändert trotzdem nichts an der Tatsache, dass Sie sich zu diesem Programm, das im wesentlichen auf oppositionellen Forderungen beruht, verhalten müssen.

Man kann dem Programm sicherlich entnehmen, dass es sich in Zukunft nicht mehr um eine stalinistische Partei handeln wird, sondern um eine Partei, die versucht, kommunistische und sozialdemokratische Traditionen zu vereinen. Aber um das glaubwürdig zu machen, hätte sich die SED eigentlich auflösen und als sozialistische Alternative neu formieren müssen. Im übrigen besteht nach wie vor ein entscheidender Unterschied zwischen SED und Opposition: Die SED ist vom Volk in die Reform hineingezwungen worden, während die oppositionellen Gruppen ihre programmatischen Vorstellungen aus ihrer authentischen und legitimierten Oppositionsarbeit entwickelt haben. Demgegenüber fährt die SED jetzt ein Notprogramm - zur eigenen Rettung. Trotzdem hat sie einen entscheidenden Vorteil, weil sie faktisch noch immer über die gesamte Infrastruktur und Kommunikationsstruktur des Landes verfügt und so von oben - wenn schon nicht glaubwürdig, so doch wirkungsvoll - eine Reformalternative vorstellen kann. Die Gruppen sind zwar glaubwürdig, aber sie können ihre Ideen noch immer nicht breitenwirksam entfalten.

Ist es wirklich in erster Linie die fehlende Infrastruktur, oder sind nicht doch inhaltliche Defizite das entscheidende Problem der Opposition?

Zunächst mal haben wir die Grundsituation, dass das Tempo der Entwicklung unsere Forderungen in den vergangenen Wochen immer wieder überholt hat. Und deshalb hat es sich als besonders hinderlich erwiesen, dass es außer einer wöchentlich tagenden Koordinationsgruppe kaum Strukturen für eine Zusammenarbeit der verschiedenen oppositionellen Gruppierungen gibt. Es wäre jetzt unbedingt notwendig, dass es zu einer gemeinsamen oppositionellen Plattform käme, die auch in kritischer Auseinandersetzung mit den Ergebnissen des Parteitages ein Programm formuliert und eine Liste von Personen aufstellt, die als Kandidaten für die Volkskammer landesweit populär gemacht werden.

Werden Sie nicht trotzdem enorme Profilierungsprobleme gegenüber der SED bekommen? Wo sehen Sie prinzipielle Differenzen?

Wir sind unter anderem der Ansicht, dass es keine Parteien und Parteistrukturen in den Betrieben geben soll; die SED muss sich aus den Betrieben zurückziehen und in den Wohngebieten organisieren. Der zweite Dissens wird der Umgang mit der nationalen Frage sein. Offensichtlich auch auf Gorbatschows Intervention hin lehnt es die SED strikt ab, dieses Thema über den Begriff der Vertragsgemeinschaft hinaus politisch zu fixieren. Wir meinen, dass man der nationalen Euphorie in der DDR nicht begegnet, indem man sie schlicht und einfach verdrängt, sondern indem man eine öffentliche Diskussion darüber führt, die geeignet ist, aus diesem Gefühlsüberschwang den rationalen Kern herauszufiltern. Der besteht meines Erachtens darin, dass im Zuge der europäischen Einigung eine wirkliche Lösung für die politische Form und Struktur der deutschen Nation gefunden wird. Die Interessen der Sowjetunion, der wir ja schließlich den gesamten Reformprozess verdanken, sind dabei nicht unbedeutend. Aber man wäre blind, wenn man diesem Problem jetzt mit Reden von Besorgnis, Chaos oder Katastrophe wieder nur emotional zu begegnen versucht.

Ich sehe auch darin keinen prinzipiellen, sondern bestenfalls einen taktischen Unterschied zwischen Opposition und SED.

Natürlich wird die SED versuchen, keinen prinzipiellen Dissens zur Opposition aufkommen zu lassen. Sie hat sich ja in den letzten Wochen als durchaus beweglich gezeigt. Aber über dieses hohe Maß an Beweglichkeit haben wir vielleicht auch manches schon vergessen. Es gibt zum Beispiel noch immer keine systematische Aufklärung über das Wirken des Ministeriums für Staatssicherheit, keine wirkliche Offenlegung der Wirtschafts- oder Umweltdaten. Es ist ein Mischmasch aus Erneuerung und Kontinuität, das auch Herr Hager, wenn er ein bisschen beweglicher gewesen wäre, noch hätte vertreten können.

Da habe ich meine Zweifel. Werden Sie denn jetzt gerade im Hinblick auf die programmatischen Überschneidungen mit der SED einen Wahlkampf gegen die SED führen, der sich in erster Linie mit ihrer Vergangenheit beschäftigt?

Ich glaube nicht, dass das das Hauptelement sein wird, denn die Wähler wissen selbst sehr genau, dass die SED die erste und die zweite Wende nur unter gesellschaftlichem Druck eingeleitet hat; die erste, weil das Volk, und die zweite, weil die Parteibasis gemurrt hat. Ich denke, wir werden unser Programm vertreten und integre Kandidaten vorstellen können, von denen die Bevölkerung das Gefühl haben wird, sie sind Bürgervertreter und nicht Parteivertreter. Den Bürgern ist es mittlerweile wichtiger, dass Personen auftreten, die mit ihnen zusammen konkrete Probleme angehen, und nicht Parteien mit der Neigung, ihren ideologischen Überbau propagandistisch zu vertreten.

Wenn jetzt die Verhandlungen am runden Tisch direkt in die heiße Phase des Wahlkampfes führen, in dem sich die unterschiedlichen Kräfte gegeneinander profilieren müssen, sehen Sie da nicht Probleme für die Kooperationsfähigkeit in den Verhandlungen?

Ich sehe diese Gefahr nicht. Eher muss sich die Opposition vorsehen, dass dieser runde Tisch kein ovaler wird, auf dem ein Eiertanz vollführt wird. Ich denke im Gegenteil, dass der runde Tisch erst mit dem Wahlkampf eine wirkliche Plattform für notwendige politische Kompromisse zur Krisenbewältigung werden kann. Bislang allerdings ist der runde Tisch eher ein grüner Tisch, weil der Opposition noch immer die Arbeits- und Entfaltungsbedingungen vorenthalten werden, die sie für ihre politische Arbeit benötigt.

Sehen Sie denn am runden Tisch die Chance für eine Kooperation mit der SED?

Es wäre albern, wenn sich Positionen annähern und es mit Berghofer und Gysi zu eine fruchtbaren Sachdebatte kommt und wir dann die Übereinstimmungen nicht als solche benennen würden. Nur möchte ich mich in dieser Frage zunächst zurückhalten, weil diese beiden nicht die SED sind, sondern früher eine absolute Minderheit waren, denen eher der Parteiausschluss als ein Parteiaufstieg drohte.

Wenn sich die Kooperation am runden Tisch bewährt, ist das dann schon der Einstieg in die zukünftige Reformkoalition mit der SED?

Am Runden Tisch wird es zu Kompromissen beim Wahlgesetz, beim Versammlungs- und Vereinigungsgesetz oder bei den Grundlinien für eine neue Verfassung kommen. Doch eine Koalition mit der SED nach den Wahlen kann ich mir nicht vorstellen. Die Opposition muss jetzt das Wahlbündnis realisieren, damit sie stärkste Fraktion wird. Das Wahlbündnis sollte Grundlage für die Regierungsbildung sein.

Wenn sich die SED in so grundlegenden Fragen wie der Verfassungsreform als kooperationsfähig erweist, was spricht dann gegen eine Koalition?

Sie überschätzen den runden Tisch völlig. Man darf in der Beurteilung nicht den Fehler machen, dass man die Situation dort identifiziert mit der Situation im Land - in Meiningen etwa oder in Stralsund. Dort sitzen weitgehend noch die alten Bonzen aus der zweiten Reihe - jetzt in der ersten. Und sie geben sich alle Mühe, sich als wendig und reformerisch auszugeben. Und gerade vor Ort nimmt das diesen SED-Leuten keiner ab. Denn gerade dort kennt man die Leute und weiß genau, dass der neue Bezirkssekretär beispielsweise in der FDJ groß gewesen ist. Ich glaube, dass sich die SED als glaubwürdige sozialistische Partei nur in der Opposition profilieren kann. Wir sind der glaubwürdige Beweis dafür, dass Opposition eine ehrenvolle und konstruktive Aufgabe sein kann. Die SED steht dann vor der Aufgabe, eine Politik zu entwerfen, mit der sie sich gegenüber unserer Regierungsarbeit als glaubwürdiger erweist. Wir können uns durchaus vorstellen, auch mit einer SED in der Opposition zusammenzuarbeiten. Warum sollte sie in dieser neuen Rolle keine sinnvollen und praktikablen Vorschläge einbringen können. Aber um solche Vorschläge personell glaubwürdig umzusetzen, braucht die SED schon einige Jahre.

Vielleicht wird das personelle Reformprofil an der Basis wirklich etwas länger brauchen. An der Spitze scheint das ja schon besser zu klappen. Hat die Opposition Angst vor dem Wahlkämpfer Gregor Gysi als neuem Zugpferd der SED?

Vor der SED und ihrem möglichem Spitzenkandidaten haben wir weniger Angst als vor der schwer verkraftbaren Mehrfachbelastung, die jetzt auf uns wartet: Die oppositionellen Gruppen müssen sich erst noch wirklich strukturieren, sie müssen einen wirkungsvollen Arbeitszusammenhang aufbauen. Sie müssen sich programmatisch jede für sich erst formulieren, und sie müssen sich auf Personen einigen, die ein Programm demokratisch, aber auch mit der nötigen Autorität vertreten können. Gleichzeitig müssen wir Wahlkampf führen.

Aber die Schwierigkeiten, die Sie jetzt benannt haben, potenzieren ja noch die Probleme, die Sie mit so einer profilierten Figur wie Gysi als Wahlkampfgegner haben werden.

Ich weiß nicht, ob nicht Rolf Henrich vom Neuen Forum, Ulrike Poppe von "Demokratie Jetzt" oder Ibrahim Böhme von der SDP hier nicht gleiches in die Waagschale zu werfen haben. Wir haben eine breite Decke möglicher Kandidaten. Aber es gibt natürlich eine sympathische Scheu bei vielen, die nie daran gedacht haben, Verantwortung für ein ganzes Land zu übernehmen, unter diesen neuen Voraussetzungen anzutreten. Die SED aber hat das große Problem, dass sie zwar einzelne Zugpferde hat, aber ein kaputtgehender Torso stalinistischer Strukturen mit sich herumschleppt. Die glaubwürdige und demokratische Neuformierung dieser Partei wird Jahre brauchen.

aus: taz Nr. 2989 vom 16.12.1989

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