Plädoyer für ein Zusammenleben ohne ökonomische Gewalt

Über eine Form der Gewaltausübung durch Wirtschaft und Politik

"Keine Gewalt!" Dieses Wort begleitete im revolutionären Herbst den Ruf "Wir sind das Volk". Das eine Wort war so wichtig wie das andere. Die Mahnung "keine Gewalt" hatte Erfolg. Sie ist in ihrer fundamentalen Einfachheit ein bleibendes Vermächtnis des Herbstes. Wie weit reicht es? Was ist Gewalt? Zunächst ist klar, dieses Wort meinte physische Gewalt. Es ist aber wichtig zu erkennen, dass es nicht nur physische Gewalt gibt. Die eigentliche Gewalt der Stasi war die psychische Gewalt der allgemeinen Ängstigung.

Gewalt nicht nur gegen physisches Leben

Es ist sicher sinnvoll zu sagen Gewalt ist gegen das Leben gerichtet. Gewalt schädigt oder tötet Leben. Dabei ist nicht nur an menschliches Leben zu denken. Leben ist nicht nur die biologische Existenz von einzelnen Leben ist auch Zusammenleben, Gemeinschaft, Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft. Auch wenn Gemeinschaft, Zusammenarbeit, Wirtschaft, Kultur zerstört wird, wird Leben zerstört, geschieht Gewalt, deshalb gibt es ökonomische Gewalt. Sie wird kaum als solche erkannt und benannt. Dabei ist ökonomische Gewalt die weltweit schlimmste Gewalt. Ökonomische Gewalt richtet sich vor allem gegen die Völker der Zweidrittel-Welt. Es ist die strukturelle Gewalt der Welt-Marktwirtschaft. Sie macht die Reichen reicher und die armen ärmer. Die Inderin Aruna Gnanadason sprach auf der Europäischen Ökumenischen Versammlung in Basel unter überwältigender Zustimmung der Delegierten vom dritten Weltkrieg der Reichen (zu denen wir nach dem 3. Oktober [1990] mehr als zuvor gehören) gegen die Armen. In diesem ökonomischen Krieg sterben Jahr für Jahr mehr Menschen als im ganzen zweiten Weltkrieg. Ökonomische Gewalt führt hier bis zur physischen Vernichtung.

Was ökonomische Gewalt ist, haben auch die Menschen in der ehemaligen DDR erfahren müssen, auch wenn Ausmaß und Folgen nicht vergleichbar sind. Die Rede ist von der vorzeitigen Währungsunion zum 1. Juli [1990], die der Bundeskanzler aus machtpolitischen Gründen gegen den Rat führender Ökonomen im Februar vor den Volkskammerwahlen angekündigte und danach auf den 1. Juli festlegte.

Über Nacht wurde das DDR-Gebiet wie ein Entwicklungsland in einen bloßen Absatzmarkt der westlichen Industrie verwandelt, indem ihm die eigene Erwerbsfähigkeit weitgehend genommen wurde. Westgeld floss in großem Umfang wieder da hin, wo es hergekommen war, brachte dort Gewinne und hinterließ hier eine Kettenreaktion der Zahlungsunfähigkeit. Nun muss das Geld per Kredit zurückgepumpt werden, um den schwer getroffenen Patienten nicht an Kreislauf-Kollaps sterben zu lassen. Dabei erzielen die Kreditgeber abermals Gewinn. Beliehen, also mit Schulden belastet wird das Treuhandvermögen, also das sogenannte Volkseigentum. Es wird zu einem großen Teil als Konkursmasse in die Hand der Gläubiger übergeben. Dies ist faktisch eine Enteignung der Bürger der ehemaligen DDR. Sie wurden überdies in einem Ausmaß arbeitslos, das nahezu alle Prognosen übertrifft. Das Herbstgutachten des Sachverständigenrats der Bundesregierung sagt für 1991 voraus, dass mehr als die Hälfte der Erwerbsfähigen in den neuen Bundesländern arbeitslos seien werden. Dies ist die Wirkung ökonomischer Gewalt.

War dieser Weg der Gewalt wirklich unvermeidbar? Heute wird diese Frage, wenn sie überhaupt noch gestellt wird, meist mit ja beantwortet und damit begründet, dass anders der Ausreisestrom nicht einzudämmen gewesen wäre. Jetzt aber hört man vom statistischen Bundesamt, dass die Zahl der Wahlberechtigten im Gebiet der ehemaligen DDR seit den Märzwahlen um 200 000 abgenommen hat. Der Ausreisestrom hält also an. Er wird unter dem Druck der dramatisch zunehmenden Arbeitslosigkeit wieder anschwellen.

Gab es wirklich keinen anderen Weg? War diene sogenannte Schocktherapie wirklich eine Therapie oder ein schwerer Kunstfehler, der nur noch durch ständige Bluttransfusionen - dreistellige Milliardenbeträge über mehrere Jahre - aufgefangen werden kann? Der alternative Weg war im Januar vom Sachverständigenrat der Bundesregierung in Übereinstimmung mit der Bundesbank gewiesen worden. Er sah die Währungsunion als letzten Schritt, als krönenden Abschluss des markwirtschaftlichen Reformprozesses nach einer erheblichen Produktivitätssteigerung der ostdeutschen Wirtschaft vor, die durch Reorganisation und westliche Kapitalhilfe zu erreichen gewesen wäre. Der Bundeskanzler aber zog es im Interesse seiner Macht vor, den letzten Schritt vor dem ersten zu tun und damit Gewalt gegen unser Zusammenleben anzuwenden.

Gewalt gegen unsere Lebensbedingungen

Ihr fallen viele durchaus sanierungsfähige Betriebe in Industrie, Landwirtschaft und Handwerk, Kultureinrichtungen, wie Theater, Kinos, Orchester, Jugendclubs, Kulturhäuser und Verlage sowie soziale Dienste wir Polikliniken, Ambulanzen, Kindergärten und -krippen und auch die Volkssolidarität zum Opfer. Massenarbeitslosigkeit, Verunsicherung, Entwurzelung, Ausländerhass sind die Folge.

Keine Gewalt - diese Forderung des Herbstes muss sich auch gegen ökonomische Gewalt richten. Politik, die den Frieden will, muss auf jede Art von Gewalt verzichten.

Hans-Jürgen Fischbeck
DEMOKRATIE JETZT
- Sprecher -

aus: PODIUM - die Seite der und für die BürgerInnen-Bewegung, Initiativen und Minderheiten, in Berliner Zeitung, Nr. 261, 46. Jahrgang, 07.11.1990

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