Demokratie braucht mündige Menschen

BZ-Gespräch mit Minister Dr. Wolfgang Ullmann

BZ: Sie haben sich als Theologe und Historiker lange und intensiv mit der Geschichte des Menschen auseinandergesetzt, damit verschiedene Formen von Demokratie studiert. Was ist die für Sie wichtigste Erfahrung?

Dr. Ullmann: Die Geschichte der Menschheit verstanden als die Geschichte aller Menschen - ist eine Einheit. Das muss sich auswirken im Rahmen jedes einzelnen Staates. Und zwar so, dass die Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger der Hauptgrundsatz des Rechts zu sein hat.

BZ: Das Wort Demokratie kommt aus dem Griechischen, hat also in die Antike zurückreichende Traditionen. Haben Sie bei Ihren Studien ein Lieblingsmodell gefunden?

Dr. Ullmann: Das gehört den Themen, die ich oft mit meinen Studenten diskutierte. Gerade nach der gescheiterten Demokratisierung 1968 in Prag lasen wir viel Plato, bemerkten die Aktualität der griechischen antiken Philosophie, aber auch einen grundsätzlichen Unterschied zum modernen Demokratiebegriff, der in seiner Vorgeschichte durch die amerikanische und französische Revolution bestimmt ist. In der Antike fehlt der Gleichheitsgedanke. Dieser ist erst auf dem Boden der biblischen Überlieferung entstanden.

Heute kann ich jedoch auf Athen und Rom oder Washington und Paris zurückgreifen. Das Entscheidende ist von Moskau ausgegangen. Es hat gute Gründe, dass man gerade in Osteuropa - wo es soviel Tyrannei und Despotismus, Entwürdigung und Menschenrechtsverletzungen in diesem Jahrhundert gab dass man gerade dort diese neue Kategorie Perestroika, Umgestaltung entdeckt hat. Das ist wirklich etwas Neues. Und mein Lieblingsmodell? Ich antworte darauf, das ist der 4. November 1989.

BZ: Demokratie setzt eine sehr hohe Reife der Gesellschaft, des Menschen, sein Mitdenken und Mittun voraus. Sie bedeutet allerdings nicht, dass alle in alles hineinreden. Demokratie hat für mich sehr viel mit Menschenwürde, mit Freiheitsbewusstsein zu tun, auch mit Sachverstand.

Dr. Ullmann: Ich stimme Ihnen da voll zu. Demokratie setzt eben den erwachsenen, den mündigen Menschen voraus. Um es auf die kürzeste Formel zu bringen: Er muss im richtigen Augenblick ja und im richtigen Moment nein sagen können. Denn die bloßen Ja-Sager sind Menschen, die ihre Würde am Ende verlieren, und die bloßen Nein-Sager enden in völligem Krampf. In diesem Ja oder Nein drückt sich die menschliche Freiheit aus. Freilich ist damit gegeben, auch etwas Falsches, die Bibel spricht von Gut und Böse, zu tun. In dieser Kampfsituation stehen wir alle.

Demokratie braucht Menschen, die wissen, wo ihre Verantwortung liegt. Die zugleich auch sehen, wo man die Kompetenz und das Recht anderer achten und respektieren muss. Aber ist es nicht ein Bestandteil des Erwachsenseins überhaupt, dass man das kann?

BZ: Wird der Mensch unter diesen Gesichtspunkten jemals erwachsen sein und seine Freiheit richtig erkennen?

Dr. Ullmann: Doch, doch. Sonst wäre Demokratie gar nicht möglich. Allerdings handeln Erwachsene oft nicht als Erwachsene und schaden damit sich selbst und anderen. Man kann nur hoffen, dass diejenigen, die die Besinnung behalten, denen helfen, die sie verloren haben.

Für mich, der ich jetzt in die Sechziger gekommen bin, ist es beklemmend, wenn ich sehe, wie in manchen Teilen unseres Landes der politische Meinungsterror anfängt. Das hatten wir doch gerade - unter anderen Vorzeichen. An dieser Stelle hat die Demokratie schon wieder gelitten oder gar aufgehört.

BZ: Vielleicht könnten die Erfahrungen jener gewaltfreien, so viel Würde geprägten Novemberrevolution des vergangenen Jahres helfen?

Dr. Ullmann: Ein Ereignis lässt sich nicht wiederholen. Man muss nun sehen, wie stark es gewesen ist. Jene Hunderttausende, die gibt es doch noch. Ich hoffe, sie werden und wollen nicht vergessen. Und die Kinder, die dabei gewesen sind - sie haben mit diesem Erlebnis in ihrem Leben immer einen Maßstab. Andererseits, es war keine Million Menschen damals in Berlin, bei uns leben aber 16 Millionen. Man darf sich nicht wundern, wenn wir nun andere Tendenzen erleben.

BZ: Politik, Demokratie und Macht sind voneinander nicht zu trennen - allerdings ist dies auch eine sehr widersprüchliche Dreieinigkeit.

Dr. Ullmann: Es kommt darauf an, dass die Macht im Dienst des Rechtes ausgeübt wird. Ich habe mich lange in Opposition befunden zu einer Partei, die den Standpunkt vertrat, politische Fragen sind Machtfragen. Das glaube ich eben nicht. Politische Fragen sind im Kern Rechtsfragen. Und die Macht darf nur dazu da sein, dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen.

BZ: Recht entsteht allerdings immer unter konkreten Bedingungen.

Dr. Ullmann: Da sind wir wieder beim Anfang angelangt. Wenn es um Recht geht und um Rechtsstreit - und den wird es immer unter Menschen geben dann kommt es darauf an, widerstreitende Rechte vor einem Forum mit friedlichen Mitteln zu entscheiden. In unserem Jahrhundert hat die Menschheit einen ganz entscheidenden Entwicklungsschritt getan. Sie hat lernen müssen, dass auf Weltebene der Friede nur dann erhalten bleibt, wenn die Politik mit den Mitteln des Rechts betrieben wird.

Das ist die große Entdeckung des Menschen - der Streit muss nicht wie bei den Tieren mit Zähnen und Klauen, mit Waffen ausgetragen werden, es kann dies durch die Sprache, die Sprache des Rechtes geschehen.

BZ: Sprache ist eigentlich nichts anderes als der unmittelbare Ausdruck des Gedankens, des Denkens überhaupt. Wir hatten lange Zeit Schwierigkeiten mit beiden.

Dr. Ullmann: Natürlich sind sprechen und denken eine Einheit. Was die vergangene Periode gekennzeichnet hat war Jedoch, dass man eine Seite der Sprache völlig vergessen hat Den Dialog. Sprache entsteht nur, wenn mehrere sprechen. Miteinander. Wir haben den Monolog erfahren. Geführt von einer Partei. Er war ein Selbstlauf von Worten ohne Informationsgehalt.

Das ist eben doch eine verkommene Sprache gewesen, die daran krankte, nur Monolog zu sein. Bis viele opponierten, sagten: gibt noch andere Gedanken, darum mischen wir uns ein. Es war eine wunderbare Erfahrung, wie Menschen sprechen lernten, die sich das bis dahin selbst kaum zugetraut hätten.

Auch am Runden Tisch zeigte sich dann, Monologe nützen nicht. Man hat miteinander geredet, um miteinander arbeiten zu können. Diese Erfahrungen sollten nun auf die ganze Welt übertragen werden.

BZ: Recht in einem Lande beinhaltet immer auch Recht für alle anderen, Demokratie ist nie nur Demokratie in einem einzelnen Staat. Diese Gedanken kommen viel zu kurz, da wir Deutschen derzeit nur mit uns selbst beschäftigt sind.

Dr. Ullmann: Ja, in letzter Zeit in zu großem Maße. Anlass sind natürlich die schnellen Wandlungen, die uns alle erfasst halben, uns manchmal den Atem nehmen. Das darf nicht dazu führen, dass wir unsere Situation in der Welt vergessen und die Situation der Welt.

Das Gespräch führte
Bettina Urbanski

aus: Berliner Zeitung, Jahrgang 46, Ausgabe 59, 10.03.1990. Die Redaktion wurde mit dem Karl-Marx-Orden, dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold und dem Orden "Banner der Arbeit" ausgezeichnet.

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