Betriebsleiter ignoriert geltendes Recht

Schwangere vor die Tür gesetzt

Wieder mehr gefragt: die Rechtsberatung der Gewerkschaft

Ein normaler Sprechtag im Bereich Arbeitsrecht/Tarife der Geschäftsstelle des FDGB, Bezirk Karl-Marx-Stadt. Kaum hat ein ratsuchendes Gewerkschaftsmitglied die gewünschte Rechtsauskunft erhalten, steht ein neuer "Klient" in der Tür. Mancher gibt sich ruhig, andere sind verunsichert, bei Frauen sind oft die Tränen nicht weit.

So zum Beispiel bei Frau K., Sekretärin in einem kleineren Karl-Marx-Städter Metallbetrieb. Durch ihren Leiter wurde ihr mitgeteilt, dass ihr eine fristgemäße Kündigung gemäß AGB § 54 Abs. 2 ausgesprochen wurde. Sie sei für die vereinbarte Arbeitsaufgabe nicht geeignet. Punktum. Sie solle sich eine neue Arbeitsstelle suchen. Man gebe ihr eine Woche Zeit. Der Betrieb hatte den § 58 Abs. 2 des AGB einfach beiseite gewischt, wonach Schwangeren nicht fristgemäß gekündigt werden darf, weil sie unter besonderem Kündigungsschutz stehen. Und Frau K. ist schwanger.

Jede fristgemäße Kündigung, zumal ohne Zustimmung der zuständigen gewerkschaftlichen Leitung, wäre unwirksam. Frau K. solle auf eine neue Aussprache drängen, so wurde ihr geraten, bei der die Gewerkschaft präsent ist, und auf ihre gesetzlichen Rechte bestehen. Die größte Sorge, so schien es, war mit dieser Rechtsberatung zunächst von ihr genommen. Offensichtlich versuchen zunehmend immer mehr Leiter, das AGB auf Kosten der bei ihnen beschäftigten Werktätigen zu Makulatur zu erklären. Soll das ihre Vorbereitung auf die "soziale" Marktwirtschaft sein? Kollege L., Leiter der Abteilung Preise in einem bedeutenden Maschinenbaubetrieb, nach Herzinfarkt Schwerbeschädigter, findet nach einer Kur die Information vor, dass der Betrieb für ihn keine Aufgabe mehr habe. Er solle sich eine andere Arbeit suchen, er könne aber auch bei der Betriebswache in rollender Woche arbeiten. Noch ist zwar kein arbeitsrechtlicher Tatbestand geschaffen worden, aber es lastet ein psychologischer Druck auf dem Betroffenen.

Wenige Zeit später ist es Kollege I. von einem Karl-Marx-Städter Betrieb des BMK Süd, ebenfalls Abteilungsleiter Preise, 53 Jahre, dreieinhalb Jahrzehnte im Betrieb, wo er sich eine anerkannte Berufskrankheit (Schwerhörigkeit) zugezogen hat, der sich noch vor einem zu erwartenden Kadergespräch eine Rechtsauskunft erbittet. Auch sein Arbeitsplatz soll durch Strukturveränderungen gestrichen werden. Was habe er als Geschädigter gegenwärtig auf dem Arbeitsmarkt für Chancen? Was könne er arbeitsrechtlich gegen eine eventuelle Kündigung geltend machen?

Soziale Ängste, die niemand erst herbeireden muss, sondern die von nicht wenigen Leitern noch verstärkt werden, weil sie versuchen, geltendes Recht zum Schaden der Werktätigen zu unterlaufen. "In dieser Zeit fordert das Mitglied von seiner Gewerkschaft vor allem Rechtsschutz. Daran misst er gewerkschaftliche Mitbestimmung", bestätigt Manfred L(...), Chef des Bereichs Arbeitsrecht/Tarife der Karl-Marx-Städter Geschäftsstelle des FDGB.

Alfred O(...)

aus: Tribüne, Nr. 52, 14.03.1990, Zeitung der Gewerkschaften