Erste Vertrauensleutevollversammlung nach der Wende

Vom frischen Wind nichts gespürt

Eine Stunde und 45 Minuten sind für eine Vertrauensleutevollversammlung keine üble Zeitspanne: Da kann eine Menge beraten werden, ist genügend Zeit für Informationen und Meinungsstreit, Zeit über zu beschließende Maßnahmen und Aufgaben zu diskutieren: Auf letztere kommt es heute mehr denn je an, geht es doch um eine gewerkschaftliche Interessenvertretung auf neue Art. Die 10. Tagung des Bundesvorstandes des FDGB [30.10. und 02.11.1989] hat dazu die Weichen gestellt.

Unter diesem Blickwinkel war sicher nicht nur meine Erwartungshaltung an die VVV am 17. November 1989 besonders hoch. Doch als die Zusammenkunft 16.00 Uhr beendet wurde, fragte ich mich, ob wir November 1989 oder 1988 haben. Warum? ich hatte den Eindruck, dass die Beratung vorbereitet wurde, ohne die Zeichen der Zeit vor dem Betriebszaun zu berücksichtigen.

Anstatt mit den Vertrauensleuten ins Gespräch zu kommen, wie sie sich das künftige gewerkschaftliche Wirken in der Brigade, im AGL-Bereich und im Betrieb vorstellen und wie es um den frischen Wind bestellt ist, der von besagter Bundesvorstandssitzung ausging, standen als erstes Informationen über die Arbeit mit dem K- und S-, Leistungs- bzw. Prämienfonds auf der Tagesordnung. Die Kollegen F(...) und O(...) waren gut vorbereitet und machten dazu sehr aussagekräftige Angaben, standen sozusagen voll in der Materie und konnten im Endeffekt auf einen disziplinierten Umgang mit diesen Fonds verweisen. Nach ihren interessanten Ausführungen wäre noch die Kurve zu bekommen gewesen, aktuelle grundlegende Fragen der Gewerkschaftsarbeit zu diskutieren und Beschlüsse anzuregen. Doch kein Thema wurde in der anschließenden Diskussion erschöpfend beraten, gab es fast keine abschließenden Standpunkte zu den aufgeworfenen Problemen, die unsere Vertrauensleute bewegen. Da ging es um Fragen, ob noch in gleicher Menge künftig Aktivisten und Bestarbeiter ausgezeichnet werden sollen, ging es um Sein oder Nichtsein der sozialistischen Brigaden und des Titelkampfes, gab es Für und Wider in Sachen zentrale Betriebsveranstaltungen zu unserem Ehrentag. Einzig und allein zur Problematik "Kulturkonferenz" wurde der Beschluss gefasst, diese nicht mehr durchzuführen, und es wurde durch den BGL-Vorsitzenden G(...) S(...) informiert, dass es Betriebs- und Wohngebietsfestspiele in der bisherigen Form auf dem "Tabak"-Sportplatz nicht mehr geben wird.

Und das ist meines Erachtens nach ein mageres Beratungsergebnis. Als erste Vertrauensleutevollversammlung nach der Wende ist das mehr als enttäuschend, denn nur das Gesicht den Vertrauensleuten zuzuwenden, genügt nicht. Sie haben vielmehr ein Recht, schnellstens zu erfahren, wie sich unsere Betriebsgewerkschaftsleitung den künftigen eigenständigen Beitrag der Gewerkschaft im Betrieb vorstellt. Auf der Vertrauensleutevollversammlung am 13. November 1989 schwieg sich dazu der BGL-Vorsitzende aus. Schade!

Andreas M(...)

aus: FILTER, Nr. 22, 29. November 1989, 30. Jahrgang, Organ der SED-Betriebsparteileitung des VEB Vereinigte Zigarettenfabriken/Werke Dresden