Ich denke . . .

Willkommen, Herr Kohl!?

Mit Pauken und Trompeten hat er sein Kommen vorbereitet - der europäische Alleingänger bläst zum Sturm auf die DDR. Mauern sind gerade gefallen, da kreist eine Vorhut von Spekulanten-Geiern bereits über unseren Betrieben und Grundstücken. Der Kuchen ist schon aufgeteilt. Zwar hat ihn der Bäcker noch nicht verkauft, aber kann er diesem Angebot widerstehen: Im Haus Westeuropa ist noch eine Keller-Wohnung frei! Entwicklungs-Bundesland und Mitglied der NATO. Jubel, besonders bei unseren osteuropäischen Nachbarn. Die Auflösung der Blöcke und Ablösung durch ein gemeinsames europäisches Sicherheitssystem im Zuge vollständiger Abrüstung stehen nicht zur Debatte.

Konservative Deutschlandpolitiker in Verbindung mit dem Vorführeffekt westlichen Überwohlstandes zeigen ihre Wirkung auf den Straßen der DDR. Auf diesen Straßen haben wir die Demokratisierung unseres Landes erzwungen. Aber sind wir auf diese Straßen gegangen, um Betonköpfe gegen Kohlköpfe einzutauschen? Wollen wir "Demokratisierung" in Richtung Arbeitslosigkeit, Wohnungsspekulation und politische Rechte für Rechtsradikale? Wollen wir Anballung von Überschussproduktion und fahrbaren Blechgehäusen, die unsere Wälder noch etwas schneller sterben lassen?

Übrigens - Einheit setzt Einigkeit voraus. Unter diesem Gesichtspunkt schlage ich gemischte Camps der alliierten Siegermächte unter Vormundschaft des Bundeskanzlers vor. Herzlich willkommen, Herr Kohl, aber bleiben Sie bitte nicht länger als unbedingt nötig.

Gerhard B(...)
(Grüne Partei)
Berlin 1055

aus: Berliner Zeitung, Nr. 296, 16./17.12.1989, 45. Jahrgang