DDR 1989/90 Brandenburger Tor

NELKEN im Winter

Sonnabend Gründungsparteitag neuer marxistischen Partei

Der Sprecher der Gründungsgruppe DIE NELKEN, Michael Czollek, gewährte ADN ein Interview.

Frage: In den von Ihrer Gruppe herausgegebenen Thesen zur Parteigründung heißt es, dass die Produktivkraftentwicklung in den letzten Jahrzehnten den Imperialismus nicht in seinen Grundfesten erschüttert hat. Warum also trotzdem eine neue marxistische Partei?

Antwort: Leider hat es bisher keine wirkliche Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft gegeben. Was Sozialismus genannt wurde, war keiner. Wir kämpfen um einen sozialistischen Entwicklungsweg in der DDR.

Frage: Warum sprechen Sie von einer neuen marxistischen, nicht aber von einer marxistisch-leninistischen Partei?

Antwort: Wir setzen dies als Zeichen dafür, dass wir uns auf die Wurzeln der marxistischen Theorie besinnen und - davon ausgehend - alle weiteren Schriften aufarbeiten wollen. Die zu starke Akzentsetzung auf Lenin hat unseres Erachtens zu gesellschaftlichen Strukturen geführt, die übermäßigen Zentralismus und mangelnde Demokratie in sich bargen.

Frage: War Lenin Ihrer Meinung nach kein Demokrat?

Antwort: Doch, aber der entstandenen gesellschaftlichen Strukturen, die anfangs durchaus historisch bedingt waren, konnte sich dann ein Stalin bedienen, und noch bis heute spüren wir diese Fehlentwicklungen. Wir müssen uns auch erinnern, was andere Führer der Arbeiterbewegung an Ideen einbrachten.

Frage: Stimmt es, daß Sie den Begriff "demokratischer Sozialismus" ablehnen?

Antwort: Ja, im Unterschied zur SED-PDS. Den Sozialismus braucht man nicht demokratisch nennen. Er ist vom Wesen her demokratisch. Oder es ist eben keiner.

Frage: Wie die anderen Parteien will auch Ihre am Sonnabend zu gründende eine Wirtschaftsreform. Wo liegen die Akzente?

Antwort: In der Herstellung gesellschaftlichen Eigentums. Das bisher Volkseigentum Genannte war Staatseigentum, und der Staat entzog sich dem Zugriff des Volkes. Gesellschaftliche: Eigentum lässt sich nur über entscheidungsbefugte Betriebsräte realisieren. Sie müssen jetzt ganz schnell gegründet werden.

Frage: Wie wird sich Ihre Partei von da SED-PDS abgrenzen?

Antwort: Auf die aktuelle Lage bezogen, glaube ich, wir messen den Betriebsräten größere Dringlichkeit bei als die SED-PDS. Die Frage des gesellschaftlichen Eigentums spielt für uns eine sehr zentrale Rolle. Die SED-PDS lehnt sich jetzt auch stark an Gewaltenteilung an, wie sie in bürgerlichen Staates üblich ist, also mit einem gewissen Akzent auf exekutiver Gewalt. Wir wollen aber das Gewicht der Legislative, also der Parlamente aller Ebenen, entscheidend vergrößern. Dazu müssten die Abgeordneten, deren Amtszeit auf zwei Wahlperioden zu begrenzen wäre, in Permanenz hauptamtlich für die Bürger tätig sein. Es könnte also eine Art "Berufsparlamente" geben. Die Rechte der Volksvertretungen gegenüber der Regierung und den Raten müssten erhöht werden.

Frage: Wie stehen Sie zur Marktwirtschaft?

Antwort: Sozialismus und Marktwirtschaft schließen einander nicht aus. Wir sind für Marktwirtschaft bei gesellschaftlicher Rahmenplanung zur Sicherung der Bedürfnisse der Menschen.

(Das Interview führte ADN-Redakteur Dr. Rolf Bartonek).

aus: Volkswacht, Ostthüringische Sozialistische Tageszeitung, 11. Januar 1990, 39. Jahrgang