Vom Elend eines Anfangs?

SVZ-Interview mit Martin Klähn, Mitbegründer und Sprecher des Neuen Forums

Mitte September fanden sich in Berlin 30 Leute zusammen und unterzeichneten den Gründungsaufruf "Aufbruch 89". Inzwischen folgen dem Neuen Forum Hunderttausende in unserer Republik. Wie werden Sie mit diesem Echo fertigt?

Das ist wirklich ein heikler Punkt. Also dieses Vertrauen einerseits, das gekoppelt ist mit Erwartung. Dem gerecht zu werden, ist meines Erachtens unmöglich. Denn hinter dem Namen Neues Forum standen zunächst nur diese 30 Leute, keine Organisation mit fertigem Programm und ausgeprägten Strukturen. Viele fragen uns, was wollt ihr eigentlich? Aber können sie diese Frage für sich selbst beantworten? Und gerade auf die motivierte Mitarbeit jedes einzelnen kommt es an.

Weiß denn das Neue Forum was es will?

Wir müssen mit dem Elend eines Anfangs fertig werden. Ich habe in manchen Sitzungen in den Gruppen das Gefühl, dass es wirklich vorwärts geht, bei manchen anderen den Eindruck, dass es überhaupt nichts wird, dass wir scheitern. Aber wenn man sich mit den Papieren der Grünen in der BRD auseinandersetzt, dann ist da eine ähnliche Entwicklung. De wurde sich über Krisen und Meinungsverschiedenheiten zusammengerauft und sogar eine Partei gegründet.

Keine Organisation, keine Strukturen, keine Partei, wie organisiert das Neue Forum seine Arbeit?

In Regionen, die mehrere Kreise umfassen können, und Städten bestehen einzelne Basisgruppen. Sie wählen je einen Sprecher in den Sprecherrat der Region bzw. Stadt. Diesen Sprecherrat (und damit die Region) vertritt ein Sprecher im Sprecherrat des Bezirkes und ein anderer in Berlin.

Will sich das Neue Forum als Partei oder als Organisation an einer Wahl beteiligen?

Der Streit, ob das Neue Forum eine Partei wird oder nicht, ist entschieden - zugunsten einer basisdemokratischen Organisationsform mit offenen Strukturen. Inwieweit dennoch Wahlbündnisse eingegangen werden, z. B. mit der SDP oder dem "Demokratischen Aufbruch", das wird sich zeigen. Und dazu müssen wir auch in unserem Programm einen gemeinsamen Standpunkt finden. In einer DDR-weiten Programmkommission und in einer Struktur- und Statutenkommission werden z. Z. diese Dokumente ausgearbeitet.

Rolf Henrich gebrauchte in einem Interview den Begriff der Plattform unter der Parteiebene für das Wirken des Neuen Forums. Kann es da klare Programmlinien geben?

Bei der Gründung sind wir davon ausgegangen, eine politische Plattform für alle Gruppen und Schichten - auch Parteien - zu bilden, um möglichst schnell zu einer breiten Öffentlichkeit zu gelangen. Jeder sollte sich einbringen können. Andererseits besteht der Nachteil schon darin, dass dadurch eine so genannte klare Linie fehlt und bei einer solchen Vielfalt von Meinungen gar nicht möglich ist. Das muss sich einpegeln. Aber es ist auch klar, dass unser Programm nicht so eingegrenzt wie ein Parteiprogramm sein wird.

Welches sind die Zielvorstellungen des Neuen Forums?

Ein Ausgangspunkt zu Überlegungen wäre die Dreigliederung des gesellschaftlichen Organismus in Wirtschaft und Ökologie, in Staat und Recht und in die Kultur und das geistige Leben. Die gegenwärtige Trennung von Politik (Parteien) und Wirtschaft ist ein Schritt dazu. Sofortziele sind z. B. ursprüngliche Forderungen, wie die politischen Grundrechte: Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Demonstrationsfreiheit, freie Wahlen, eine umfassende Rechtsreform, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung. Ziele für einen längeren Zeitraum wären z. B. eine Verwaltungsreform im Sinne ursprünglicher Länder. Oder: die Humanisierung und Qualifizierung der Arbeit, freie Entfaltung von Genossenschaften und für private Initiativen in der Wirtschaft muss Raum geschaffen werden.

Nun wurde in unserem Land, auf dem Gebiet privater Kleinbetriebe in den vergangenen Jahren nicht wenig getan. Meinen Sie mehr und mehr gesellschaftliches durch privates Eigentum abzulösen?

Grundsätzlich nicht. Aber branchenspezifisch bin ich schon der Ansicht, dass private Unternehmen, die der Gesellschaft rechenschaftspflichtig sind, effektiver und nutzbringender sind, alt Großbetriebe. Z.B. bei Dienstleistungen und im Bereich des Bauwesens, bei Reparaturen und Rekonstruktionen. Früher gab es in Schwerin ...zig kleiner Baubetriebe.

Privatinitiative als nützliches Element für ein Sozialismuskonzept?

Ich will den Sozialismus nicht als gescheitert ansehen und sehe schon gar keine Alternative im Kapitalismus. Nur wäre ich zurzeit wirklich sehr vorsichtig mit dem Begriff überhaupt. Ich bin der Meinung, wir müssen, beginnend bei den Kindern, eine Werteumorientierung erreichen. Kulturellen, humanistischen, ökologischen Werten sollte eine größere Bedeutung zugemessen werden.

Etwas anderes: Sie sprechen von der politisch Breite Ihrer Anhänger. Sie spiegelt sich auch auf den Demonstrationen wider. Und es gibt Leser unserer Zeitung, die sich davon bedroht fühlen ...

Demonstrationen werden vom Sprecherrat der Stadt angemeldet und vorbereitet. Wer dort sprechen will, das ist jedermanns eigene Sache. Und da ist es für uns auch schwierig zu sagen, dass wir für alle da sind und zugleich einzelnen das Wort zu verbieten. Jeder ist berechtigt, seine Meinung zu sagen. Viel angestauter Hass und Unmut kommen ans Licht. Da schießen auch Leute über das Ziel hinaus.

Auch neofaschistische Töne sind zu hören ...

Wir sind gegen Neofaschismus und braune Gruppierungen.

Und wie fair ist es, SED-Mitglieder auszubuhen?

Durch die Aufdeckung der kriminellen Machenschaften der Führungsclique ist in meinen Augen die gesamte SED moralisch disqualifiziert. Und die Mitglieder an der Basis müssen jetzt einen Teil der Schuld vor dem Volk mittragen. Das ist für den einzelnen gewiss tragisch.

Sind Sie für eine Zusammenarbeit mit der SED oder nicht?

Mit einer solchen Partei komm es zum gegenwärtigen Zeitpunkt für uns keine Zusammenarbeit geben. Die Mitglieder der SED befinden sich in einem Prozess der Neupositionierung und Neuformulierung ihrer eigenen Richtlinien. Alles andere wird sich finden. Da wir noch über keine eigene Zeitung verfügen, sind wir schon interessiert, in der SVZ als auflagenstärkste Zeitung des Bezirks programmatische Texte und Stellungnahmen zu bestimmten Ereignissen zu veröffentlichen.

(Mit Martin Klähn sprach SVZ Redakteur Stefan Koslik.)

aus: Schweriner Volkszeitung, Nr. 288, 07.12.1989, 44. Jahrgang, Zeitung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Herausgeber: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, Bezirksleitung Schwerin

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