Neues Forum Magdeburg Bezirksblatt 20.11.1989

"Aller Anfang ist schwer... "
Anmerkungen zum Kontaktadressentreffen am 16.11.89 in Magdeburg

Ebenso wie beim Bezirks- und Republiksprechertreffen ging es auch hier wieder überaus kontrovers zu. Der Eindruck entsteht, dass wir von den äußeren Ereignissen nicht nur mitgerissen sondern zu Teil "überrollt" werden.

Die vom "Selbsterhaltungstrieb" diktierte Entscheidung der SED-Führung, die Grenzen zu öffnen, stellt unser Land vor politische und wirtschaftliche Probleme, deren Ausmaße in ihrer Gesamtbreite noch nicht absehbar sind. Der Ausverkauf der DDR-Wirtschaft zeichnet sich ab, wenn weiterhin "geschäftstüchtige" Bürger unseres Landes in skrupelloser Art und Weise ihre Arbeitskraft, Kultur- und Kunstgüter sowie ihre Ost-Mark-Ersparnisse auf den West-Markt feilbieten. Wie glaubhaft sind die Beschwichtigungversuche des Präsidenten der Staatstank, Horst Kaminsky, der die Angst der Bevölkerung vor einer möglichen Inflation mit der lächerlichen Behauptung: "das Geld- und Kreditvolumen der Volkswirtschaft ist in vollem Umfang materiell gedeckt.", beruhigen möchte. Und das, obwohl die zwei Tage vorher bekannt gewordene Inlandverschuldung alarmierend und die Auslandsverschuldung immer noch "geheime Verschlusssache" ist.

Auch innenpolitisch bat sich das Bild gewandelt. Die in Rückzugsgefechte verstrickte SED-Führung versucht unter großem Kraftaufwand ihre Reihen neu zu formieren. Nicht mehr nur die neu entstandenen oppositionellen Initiativen, sondern vielmehr die aus ihrem "Dornröschenschlaf" erwachten Blockparteien haben Morgenluft gewittert und betreiben allerorts mehr oder weniger offenen Wahlkampf. Scheinbar bisher unberührbare Schlagworte wie "Alleinherrschaft" und "Führungsanspruch" sind neuen Begriffen, wie "freie Wahlen" und "Koalition", gewichen. Vor diesem Hintergrund erscheint mir die Forderung aus unseren Reihen begründet, sich dieser neuen Situation zu stellen, sind das NEUE FORUM zu einer Partei zu formieren. Ich halte diese Entwicklung für voreilig und falsch. Sie widerspricht den Grundanliegen und der Idee unserer Bewegung. Wir wollen freie, selbstbewusste Menschen, die sich nicht bevormunden lassen, sondern gemeinschaftsbewusst handeln und verantwortungsvoll am gesellschaftlichen Reformprozess teilnehmen. Was nun passiert, ist wieder das alte Spiel, wir delegieren die eigentlich nur uns zustehende Verantwortung über unser Leben und unsere Bedürfnisse in ihren wirtschaftlichen und politischen Aspekten an Parteiführer und Fachexperten. Reichen unsere Träume wirklich nicht weiter als bis zu einem volksfernen "bundestagsähnlichen" Parteienpluralismus, der sich dann je nach Wahlergebnis liberal, christlich, sozialdemokratisch, national oder vielleicht kommunistisch nennt?

Die Versuchung ist natürlich groß, den schmerzhaften, von Ängsten und Unsicherheiten geprägten Weg hin zu einer wirklich neuen Gesellschaftsform, in der der Mensch in seiner Ganzheit ernst genommen aber auch gefordert ist, zu vereinfachen, indem wir uns künstliche Sicherheiten in Form von neuen Institutionen schaffen. Ein klares Programm, ein Statut und ein Parteimitgliedsbuch bereiten vielen nun unmittelbar das Gefühl, am politischen Leben beteiligt zu sein. Für einige "Ewig-Zukurzgekommene" eröffnen sich ungeahnte Wege und Möglichkeiten, relativ schnell zu Macht und Ansehen zu gelangen. Verfügen wir weltgeschichtlich gesehen nicht über genügend Erfahrungen, um diese einfachen Mechanismen zu durchschauen. In den Religionen, wurde das dem Menschen eigene schöpferische und kreative Potential, wie es sich in der Arbeit, Liebesfähigkeit und Sexualität ausdrückt, an einen übermenschlichen Gott delegiert. Kult und Priester erlangten dadurch Macht über den nunmehr als Sünder abgestempelten Menschen. Obrigkeitshörigkeit, Abgötterei und Selbstunterwerfung, bewusst oder unbewusst, sind Grundvoraussetzung jeder Herrschaftsform, sei es die des Mannes über die Frau, oder Diktaturen ob unter Hitler, Stalin oder einer Partei.

Natürlich werden wir als NEUES FORUM politische Verantwortung übernehmen, also uns auch den Wahlen stellen. Aber ich denke wir sollten die Stunde nutzen und diese überholten Parteistrukturen, die den Machtmissbrauch und die Unmündigkeit des Einzelnen bereits vorprogrammieren, durch neue wirklich demokratische Organisationsformen ersetzen.

Praktisch heißt das, dass wir bei der Erarbeitung unseres Programms und bei den Statut/Strukturvorschlägen z. B. an eine hohe Eigenverantwortlichkeit und Mitspracherecht der Basisgruppen, an paritätische Besetzung durch Frauen, an Rotation und Abwählbarkeit führender Vertreter, aber auch an Solidarisierung mit der 2/3 Welt und mit unserer natürlichen Umwelt denken. In diesem Prozess sind der Bewusstseinswandel der Menschen und die Wertediskussion genauso wichtig, wenn auch weniger populär und repräsentativ, wie die direkte politische Aktion. Phantasievolle Vorschläge sind jetzt sehr gefragt als ständige Nörgelei und zersetzende Kritik. Wer bereit und fähig ist, an der Erarbeitung von Statut und Programm des NEUEN FORUM mitzuwirken, ist am Mittwoch, den 22.11. um 19.00 Uhr in das Kontaktbüro, HegeIstr. 18 eingeladen. Es können bis zu diesem Zeitpunkt auch schriftliche Vorschläge eingereicht werden.

reiner krauße

Die Früchte eines Montags

Am 13.11. auf dem Domplatz ist eins deutlich geworden: Der Weg zum "Rechtsstaat DDR" wird lang und hindernisreich sein. Ein Anfang wurde gemacht, als Vertreter von NEUEM FORUM und SDP mit dem Rat der Stadt die Bildung zweier Kommissionen vereinbarten, die sich erstens mit der Überprüfung der Wahl beschäftigen und zweitens Rechtsbeugungen durch Staatssicherheit, Justiz- und Strafvollzugorgane aufdecken sollen. In diesen beiden Kommissionen sind die Stadtverordnetenversammlung sowie die vier in Magdeburg tätigen demokratischen Initiativen vertreten. Außerdem sollen Rechtsanwälte und unabhängige Bürger mitarbeiten. Im NEUEN FORUM hat die Vorbereitung schon begonnen. Wir sammeln Aussagen von Betroffenen, Inhaftierten und durch Stasi, Polizei und Justiz beschädigten; darüber hinaus Beobachtungen von Unregelmäßigkeiten und Gesetzesverletzungen bei der Vorbereitung und Durchführung der Kommunalwahl. Wir wollen und müssen in diese Kommissionen mit viel Beweismaterial hineingehen. Unterstützen Sie uns, indem Sie alles, was dazu dienen kann, Licht in dunkle Ecken unseres Staatswesens zu bringen, niederschreiben und uns namentlich gezeichnet zur Verfügung stellen (Bitte persönlich abgeben).

NEUES FORUM-Vollversammlung

Sie erste Vollversammlung aller Magdeburger, die als Unterzeichner das NEUE FORUM unterstützen, findet am 5. Dezember, um 19.00 Uhr in der Stadthalle statt. Einlass ab 18.00 Uhr. Ein richtiger Tagesordnungspunkt ist die Wahl des vorläufigen Stadtsprecherrates der bis zur Gründungshandlung bestehen wird. Dazu bitten wir ab sofort um schriftliche Kandidatenvorschläge.

Bis zur Erstellung eines Statuts soll folgender Schlüssel gelten:

- je 6 Kandidaten aus den vier Stadtbezirken

- je 1 Kandidat aus den Fachforen

- je 1 Vertreter Redaktionsgruppe, Finanzen, Kontaktbüro, Koordinierung


Bleibt die Mauer, gehn die Leute, fällt die Mauer, ist sie pleite, ja, sie hat es wirklich schwer unsre arme DDR!


Basisdemokratie

Einige Ansätze für die ersten Gehversuche:

- Werde Dir über die eigenen Interessen klar, versuche herauszubekommen, wo Gefühle und wo rationale Überlegungen Deine Haltung bestimmen. Gefühle sind ebenso wichtig nie rationale Argumente. Rationale Argumente kann man aber besser gegeneinander ablägen.

- Nimm Deine Interessen selber wahr, überlasse das nicht anderen Gremien - Du kannst für Dich selbst am besten sprechen. Überwinde die Scheu vor dem Gespräch mit verantwortlichen Stellen.

- Bemühe Dich darum, möglichst genau zu verstehen, wie die Zustände jetzt sind, die Du verändern möchtest.

- Erarbeite Vorschläge, die geeignet sind, diese Zustände in der von Dir gewünschten Richtung zu verändern.

- Fange an zu sprechen - gib Dir Mühe, Deine Gedanken möglichst kurz und klar auszudrücken.

- Erarbeite Vorlagen für Diskussionen und Veranstaltungen.

- Versuche Meckerrunden in konstruktive Bahnen zu bekommen.

- Übe mit Deinen Freunden demokratische Formen der Meinungsbildung.

- Innerhalb der Demokratie setzt sich nie die Einzelmeinung durch. Gruppen versuchen ihre Interessen zu vertreten. Die Meinung des Einzelnen ist von entscheidender Bedeutung, sie wird sich aber in der Arbeit der Gruppe verändern. Es ist keine Schande, wenn Du Deinen Standpunkt korrigierst. Versuche nicht, um jeden Preis Deine Meinung durchzusetzen. Bemühe Dich aber ernsthaft darum, die Gruppe auf den Weg hinzuweisen, den Du für richtig hältst. Überprüfe besonnen die Situation, wenn der Meinungsunterschied zwischen Dir und der Gruppe unerträglich wird. Kannst Du schließlich keinen Konsens mehr mit Deiner Gruppe erreichen, ist es an der Zeit, die Gruppe zu verlassen.

- Eine Möglichkeit, zu einem Gruppenbeschluss zu kommen, ist die Abstimmung. Der Nachteil von Mehrheitsentscheidungen besteht darin, dass ein Schritt beschlossen wird, den die überstimmte Minderheit für falsch oder schlecht hält. Knappe Abstimmungsniederlagen sind besonders schwer zu ertragen.

- Kritik an Formulierungen ist nur hilfreich, wenn eine gut überlegte bessere Formulierung schriftlich vorgelegt wird.

- Überlege zweimal, ob Dein Diskussionsbeitrag in diesen Augenblick wirklich wichtig ist oder ob Du eigentlich nur mal reden möchtest. Brennt Dir etwas auf der Zunge, lass es brennen.

- Abstimmungen helfen den Zurückhaltenden unter Euch, eine Entscheidung zu beeinflussen und stellen eine wichtige Möglichkeit dar, gegen ranghöhere, besonders beliebte, beredte oder demagogische Diskussionspartner vorangehen, ohne dass man sich mit ihnen auf eine "Mann-gegen-Mann"-Debatte einlassen muss.

- Nimm das Abstimmungsergebnis ernst und fange nicht nach der Abstimmung wieder mit der Diskussion an, auch wenn es Dich juckt!

- Wenn bei einer Abstimmung unterliegst, tröste Dich damit, dass sich wenigstens die Meinung der Mehrheit durchgesetzt hat. Das ist (fast) immer besser, als dass eine kleine Minderheit diktatorisch regiert.

Zum guten Schluss

Wie leider viel zu spät bekannt wurde, hat sich Egon Krenz bereits am 9.10.89 in Leipzig aufgehalten und dort die "Friedliche Revolution" eingeleitet. (ADN, Volkstimme vom 18.11.89 S. 6)
Warum hat er das nicht gleich gesagt?
Vermutlich aus Bescheidenheit.

aus: Das Neue Forum - Selbstportrait einer Bürgerbewegung, Demokratiebewegung in der DDR, Materialien zur gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, DGB-Bundesvorstand, Abt. gewerkschaftliche Bildung, ohne Ort und Datum

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