Kritische Anmerkungen zur Verantwortung der Betriebe

Die alten Wirtschaftsstrategen sind abgesetzt, die Gesetze zwar juristisch noch in Kraft, aber praktisch nicht mehr ausreichend - die (noch) VEB bewegen sich im luftleeren Raum. In dieser Situation erlangen die Direktoren von Betrieben und Einrichtungen mit einem Male eine bislang unbekannte Bedeutung, sprich Machtfülle.

Erlebnissen und Medienberichten zufolge machen sie davon auch regen Gebrauch: Beratungen und Aussprachen, auch solche, die den Arbeitsprozess betreffen, werden sogleich in den Feierabendbereich verlegt, bezahlte gesellschaftliche Arbeit kaum noch zugelassen, Gewerkschaften sollen Miete im Betrieb bezahlen usw.

Rechtfertigung dafür scheint die Ablösung hauptamtlicher SED-Betriebsleitungen zu sein. Deren mehr oder weniger nutzlose Arbeit wird somit jedoch vereinfachend gleichgesetzt mit dem gegenwärtig unverzichtbaren gesellschaftlichen Engagement vieler ehrenamtlich in Volks- und Elternvertretungen, Bürgerinitiativen oder Ausschüssen Arbeitender. Die Gesellschaft aber lässt sich nicht ausschließlich nach Feierabend (re)organisieren.

Ebenfalls im Namen der "Effizienz" werden jetzt in Betrieben und anderen Einrichtungen Entscheidungen gefällt, die sie von "lästigem, betriebsfremdem Ballast" befreien: Volkssportgruppen werden freigesetzt, die FDJ streicht Kulturzuschüsse ersatzlos, Kulturhäuser und -gruppen werden als nächste daran glauben müssen, ebenso wie Bibliotheken, Ferienlager oder Weihnachtsfeiern. Betriebs- und andere Direktoren entscheiden folglich über das Wohl und Wehe von Dingen, die mitnichten in ihren Kompetenzbereich fallen.

Aus diesen geschilderten Situationen ergeben sich für die Zukunft u. a. die folgenden Gesichtspunkte:

- Im derzeitigen Umbruchzustand der Wirtschaft beginnen sich Mechanismen und Regelungen durchzusetzen, deren Folgen gesamtgesellschaftlich eher weiteren Schaden anrichten, denn ihn zu begrenzen.

- Das jetzt aufbrechende Gesellschaftsgefüge der DDR kann nicht allein durch das Primat Wirtschaftlicher Effizienz neu geordnet werden. Ökonomismus führt zu neuen Instabilitäten. Gesellschaft ist weit mehr als nur Ökonomie!

- Die oben kritisierten Direktoren-Entscheidungen sind nicht in neue territoriale und gesamtgesellschaftliche Konzeptionen eingebunden und somit verantwortungslos.

- Außerdem zeugen diese Vorgänge von nach wie vor praktizierter Unausgewogenheit. betriebsperspektivischer Kurzsichtigkeit sowie stalinistischem Demokratieverständnis (nun noch gepaart mit Kapital-Logik).

- Die Absurdität dieses betrieblichen Vorgehens wird nach Aussagen von Mitarbeitern daran deutlich, dass viele Betriebe oder Teile derselben fürchten, in Kürze vor dem "Aus" zu stehen. Lösungen aber nicht in Aussicht seien. Hier muss doch die verantwortliche Leitung der jeweiligen Betriebe mit ihrer Arbeit ansetzen, ehe neue Formen der Betriebsorganisation administriert werden.

- Auch Betriebe dürfen nicht außerhalb der neuen demokratischen Kontrolle stehen und mithin Entscheidungen nur so weit fällen, dass sie einem Entscheidungsprozess über künftige Gesellschaftsstrukturen nicht schon vorgreifen.

Es tun sich letztlich ein Reihe gewichtiger und konkreter Fragen auf, die es bald zu lösen gilt. Mit alten und neuen Parolen ist da nichts getan.

Hier müssen sich neue Parteien, Initiativen, Gewerkschaften und Betriebsräte profilieren. Zusammenarbeit mit bereits weiterdenkenden Betriebsleitungen wie beispielsweise bei der ERMAFA Karl-Marx-Stadt bietet sich an.

Andreas E(...)

aus: freie presse, Nr. 5, 06.01.1990, 28. Jahrgang, Karl-Marx-Stadt