Das NEUE FORUM Dresden zur deutschen Frage

Aus aktuellem Anlass erklären wir uns zur deutschen Frage. Die folgende 9-Punkte-Erklärung orientiert sich an den Grundsätzen, die am 9. und 10. Dezember 89 während des landesweiten Bezirksdelegiertentreffens des NF in Leipzig deutlich wurden, ohne dass es zu einer verbindlichen Formulierung gekommen war. Es sind außerdem noch einige Gedanken aus den Dresdner Gruppen einbracht. Dieses Dresdner Statement versteht sich zugleich als Vorschlag an alle anderen Bezirksorganisationen des NF.

1. Wir wollen einen zügigen, nicht aber überstürzten Weg zur Einheit der beiden deutschen Staaten und Berlins im Sinne einer Konföderation. Wir werden unseren politischen Einfluss geltend machen, um in Gesetzgebung, Wirtschaft, Bildung auf dem Sicherheitssektor und in anderen Bereichen Entscheidungen zu verhindern, die für den Weg zur deutschen Einheit nicht offen sind.

2. Jeder Schritt der Deutschen in die Zukunft muss bestehende politische und völkerrechtliche Grundvoraussetzungen berücksichtigen.

Die deutsche Teilung ist ein Ergebnis des von Deutschland entfesselten zweiten Weltkrieges. Soll dem Status quo in Europa eine europäische Friedensordnung im Sinne eines "gemeinsamen europäischen Hauses" folgen, dann müssen die Siegermächte unter die Erblast des zweiten Weltkrieges verbindlich einen Schlussstrich ziehen. Der schlimme Beitrag des Vertrages von Versailles zur politischen Radikalisierung in Deutschland und zum Aufstieg Hitlers sollte hierbei den Siegermächten als Beispiel dafür dienen, wie mit den Interessen und der Identität des besiegten Volkes besser nicht umgegangen werden sollte. Sensibel für die deutsche Lage sollten die vier Mächte in völkerrechtlich verbindlicher Weise

- die militärischen, politischen und juristischen Rahmenbedingungen für die Übergabe der völligen Souveränität der beiden deutschen Staaten und Berlins festlegen,

- die Oder-Neiße-Grenze in ihrem jetzigen Verlauf definitiv zur deutsch-polnischen Grenze erklären,

- die Modalitäten der Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches regeln

und sodann ihr noch vorhandenes Mandat für Deutschland für beendet erklären.

3. Nicht nur die vier Mächte, sondern alle Staaten sollen den Weg zur deutschen Einheit akzeptieren. Besonders unsere Nachbarn sollen ihn vertrauensvoll begleiten können. Daher muss das jetzt geltende Vertragswerk der deutschen Staaten mit Drittländern dort in gegenseitigem Einvernehmen modifiziert werden, wo es einer künftigen Einheit Deutschlands hinderlich ist.

4. Jede Entscheidung zur deutschen Zukunft muss das deutsche Volk in beiden deutschen Staaten und Berlin in freier Selbstbestimmung und in Respekt vor den Interessen der Bevölkerung des jeweils anderen Teiles souverän treffen. Dabei ist die absolute Gewaltlosigkeit ein unverzichtbarer Grundsatz. Ohne eine konzentrierte und sorgfältige Vorbereitung ist eine Konföderation nicht denkbar. Alle konzeptionellen Grundsätze hierzu müssen von einer Analyse der Chancen, aber auch der Gefahren für alle Partner ausgehen und die Identität jedes Partners achten und schützen.

Alle Maßnahmen der Erneuerung in der DDR in Recht, Verwaltung, Wirtschaft, Bildung, Verkehr, Ökologie usw. sollten im Rahmen einer Konföderation passfähig sein.

5. Die unterschiedlichen Blockbindungen der beiden deutschen Staaten sind ein besonders schweres Problem. Das NF tritt für einen Austritt beider deutscher Staaten aus ihren jeweiligen Militärbündnissen ein. Es wünscht ein neutrales, entmilitarisiertes Deutschland in vertraglich verifizierbar geregelter Sicherheitspartnerschaft mit den Nachbarn im Rahmen einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsdoktrin. Wir wissen, dass solch ein Schritt in der Bundesrepublik zur Zeit schwerlich eine Mehrheit fände. Deshalb müssen zugleich Varianten untersucht werden, die den Weg zur Konföderation auch dann ermöglichen, wenn es noch auf absehbare Zeit qualitativ beim Status quo in Europa bleibt. In jedem Fall unterstützen wir Abrüstungsmaßnahmen jeglicher Art. In diesem Sinn begrüßen wir besonders den Punkt 9 der Erklärung von Bundeskanzler Kohl vom 28. November 89 als reale und hoffnungsvolles Zeichen.

6. Ein Weg zur deutschen Einheit ist undenkbar, wenn nicht einschlägige Grundsätze zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der DDR zu geltendem Recht gemacht werden. Ein Schritt in die richtige Richtung wäre die Ratifikation und volle Umsetzung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1952 (Strasbourger Konvention)

7. Von erstrangiger Bedeutung sind geeignete Schritte zu einer gemeinsamen deutschen Währung. Diese Maßnahmen müssen unverzüglich erfolgen, weil sonst eine anarchische Ablösung der Mark der DDR durch einfließende DM droht. Dies wäre mit einem Kaufkraftverlust und damit mit eisern Wertverfall der Bezüge und Spareinlagen in der DDR verbunden und hätte besonders für sozial Schwache und Rentner sozial unvertretbare Folgen. Anlass zur Eile ist auch durch sich anbahnende inflationäre Tendenzen im Zusammenhang mit dem Wegfall von Subventionen und einem kostendeckenden, marktregulierendem Preisgefüge gegeben.

Daher sollte in angemessener Frist die Mark der DDR im Wege eines geordneten Verfahrens durch die D-Mark ersetzt werden.

8. Auf dem Weg zu einer Konföderation muss von beiden deutschen Staaten auch das Thema der ungleich verteilten Kriegslasten, insbesondere das der disproportionalen Reparationsleistungen behandelt werden.

Dabei ist zu prüfen, auf weiche Weise dieser Komplex entstandene und noch entstehende Verbindlichkeiten der DDR bei der BRD mit entlasten könnte.

9. Aus den Punkten 2 bis 8 dieser Erklärung leitet das NF Verhandlungsaufträge an die geschäftsführende Regierung der DDR mit den Alliierten bzw. Drittstaaten und der BRD ab.

Aus diesen Verhandlungen sollten Verträge resultieren, die sich in größtmöglicher Kontinuität zu geltenden Vertragswerken befinden und im Geist des KSZE-Prozesses gestaltet sind.

Arnold Vaatz

aus: Sächsische Zeitung, Nr. 296, 16./17.12.1989, 44. Jahrgang, Sozialistische Tageszeitung für den Bezirk Dresden, Herausgeber: Bezirksleitung Dresden der SED

Δ nach oben