Der FDGB-Kongress oder wie man Delegierte macht

Als in der DDR zur Wende geläutet wurde, stand der FDGB vor einer sehr schwierigen Situation. Verkommen zum Erfüllungsgehilfen eines stalinistischen Machtapparates, belastet durch einen kriminellen Vorsitzenden, geleitet von einem willfährigen und unfähigen Bundesvorstand und aufgebläht mit unzähligen Berufsgewerkschaftern, die alles, aber nicht die Interessen der Werktätigen wahrnahmen, war der Bundesvorstand angetreten, sich zu erneuern und Vertrauen zurückzugewinnen. Der erste Versuch mit Frau Kimmel musste kläglich scheitern Ein außerordentlicher Gewerkschaftskongress wurde beschlossen, auf dem die Gewerkschaft ein neues Selbstverständnis finden, sich den neuen und ungewohnten Aufgaben gewachsen zu zeigen und Vertrauen der Werktätigen gewinnen sollte. Selbstverständlich sollten die Delegierten erstmals basisdemokratisch gewählt werden - versprach die "Tribüne".

Meine Erfahrungen sehen leider anders aus. Am 5.1.90 rief ich meinen BGL-Vorsitzenden (Kombinatsleitung des Baukombinates Leipzig) an und fragte ihn, wann und wie die Delegierten in unserem Betrieb gewählt würden. Hatte ich in der "Tribüne" wiederholt Berichte gelesen, wie solche Wahlen ablaufen, wie die Kandidaten ihre Intentionen vorstellten und die Aufträge der Kollegen entgegennahmen. Kollege F(...) teilte mir jedoch mit, dass die "Wahl" der Delegierten schon abgeschlossen wäre. Daraufhin erhob ich Protest und drohte ihm, mit dieser Ungeheuerlichkeit an die Öffentlichkeit zu gehen. Anschließend erkundigte ich mich beim Bezirksvorstand des FDGB nach Wahlmodus und Wahlschlüssel und erhob auch da schärfsten Protest. Es verging nicht viel Zeit, und der Kollege F(...) rief zurück. Er teilte mit, dass er noch ein Mandat für den Kongress hätte. Dieses Mandat würde meiner Gewerkschaftsgruppe zur Verfügung stehen.

Meine Gewerkschaftsgruppe umfasst 41 Mitglieder. Der Schlüssel, den mir der Bezirksvorstand mitteilte, lautet aber: 3 700 Mitglieder wählen einen Delegierten.

Wo kam dieses zusätzliche Mandat plötzlich her? Wollte mir jemand mit diesem Mandat den Mund stopfen?

Dieser Vorgang war für uns Anlass, in vielen Leipziger Betrieben zu recherchieren, wie dort die Wahlen abgelaufen sind. Das Ergebnis war erschütternd. In fast allen Betrieben wurden keine ordentlichen Wahlen durchgeführt. Das kann doch aber nur heißen, dass die Berufsgewerkschafter die Mandate willkürlich verteilen und vergeben können. Zum Kongress werden Delegierte anreisen, die nicht delegiert sind. Haben die Berufsgewerkschafter Angst um ihre Posten und wollen auf diese Weise einer notwendigen, konsequenten Umgestaltung und Umstrukturierung der Gewerkschaften gegensteuern? Was kann man unter diesen Umständen von diesem Kongress, von dieser Gewerkschaft also erwarten?

Ich sehe nur noch die Möglichkeit, dass sich aus den schon zahlreich vorhandenen Interessenverbänden und Betriebsräten neue, unbelastete und den bevorstehenden Aufgaben gewachsene Gewerkschaften gründen. Bei den sich abzeichnenden ökonomischen, sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen (siehe letzte Volkskammertagung), benötigen wir dringend starke Gewerkschaften, die die Interessen der Werktätigen gegenüber der Regierung aber auch in den Betrieben wirksam und konsequent vertreten und durchsetzen können.

R. P(...), Neues Forum Leipzig

aus: Leipziger Volkszeitung, Nr. 17, 20./21.01.1990, 45.(96.) Jahrgang, Organ für die Interessen des werktätigen Volkes, Herausgeber: Bezirksleitung Leipzig der SED-PDS