Ein jeder kehre ein bei sich . . .

Jahrelang haben wir uns von der Staatssicherheit bedroht gefühlt, manches hat man gewusst, vieles geahnt, einiges gehört... Und doch übertraf die Offenlegung von Daten bezüglich des Stasiapparates am Runden Tisch bei weitem unsere Vorstellungen.

In dem Überwachungs- und Unterdrückungsapparat Staatssicherheit waren Hunderttausende Menschen beschäftigt. Was wird nun aus ihnen?

In den Medien tauchen Berichte auf, dass ehemalige Mitarbeiter der Stasi Probleme bei der Arbeitssuche haben, dass sie in der Öffentlichkeit auf eine Mauer der Ablehnung stoßen, dass ihre Familienangehörigen diskriminiert werden. Haben die Betroffenen keine anderen Probleme? Haben sie ihre Vergangenheit schon vergessen oder fanden sie noch keine Zeit darüber nachzudenken? Wie gehen sie mit ihrer Schuld um?

Die Gefahr, die sich aus dem Verdrängen von Schuld ergibt, haben wir in der jüngsten Vergangenheit schon einmal erlebt. Wegschieben, Vergessen, Verdrängen ins Unterbewusstsein bewirkt, selbst bei dem Wunsch neu anzufangen, dass die Gewaltpotenz erhalten bleibt und sich unter anderen Umständen wieder entfalten kann. Was ist zu tun?

Die Betroffenen müssen ihre persönliche Schuld annehmen und sich offen damit auseinandersetzen. Dabei ist es wichtig, nicht nur die äußeren Umstände zu betrachten, sondern auch die psychologischen Mechanismen zu hinterfragen. Vieles kann im Spiel gewesen sein: Gutgläubigkeit, Schwäche, Erpressbarkeit, Karrieredenken, Machtrausch. Alle Beteiligten waren nicht nur Täter, sondern auch Opfer, indem ihre Persönlichkeit eingeschränkt und deformiert wurde. Sie, die andere überwachten, wurden selbst perfekt überwacht, sie, die andere zum Schweigen bringen sollten, waren selbst zum Schweigen verurteilt, sie, die Andersdenkende isolieren sollten, waren selbst einsam.

Solch ein Nachdenken muss öffentlich erfolgen. Dieser Prozess muss angenommen, herausgefordert und unterstützt werden von den Medien und von uns allen. Wut, Zorn und Hass behindern diese Auseinandersetzung mit dem Schuldigsein. Schweigen macht sie ganz unmöglich!

NEUES FORUM
Friedrichshain

aus: Berliner Zeitung, Nr. 23, 27./28.01.1990, 46. Jahrgang