Damit sich Geschichte nicht wiederholt

Keine Stasi-Mitarbeiter in die neue Volkskammer

GASTKOMMENTAR

Die Stunde Null ist vorbei. Die DDR hat gewählt. 13 Parteien werden in der neuen Volkskammer vertreten sein. Die neue Demokratie wird jedoch keine, wenn wir uns nicht unserer Vergangenheit und deren Fragen stellen. Seit Tagen schon steht eine dieser Fragen groß und bisher unbeantwortet im öffentlichen Raum. Sie lautet: Wie viele der jetzt gewählten Abgeordneten waren oder sind Mitarbeiter der Staatssicherheit? Es ist schon erstaunlich, dass diese Frage keine der Parteien zu beunruhigen scheint. Die Bürgerbewegungen sind allerdings um so mehr beunruhigt. Sie und die Bürgerkomitees, dass heißt wir alle, haben uns doch nicht ein halbes Jahr umsonst bemüht, die Staatssicherheit aufzulösen. - Die Erfurter Regierungskommission zur Auflösung der Stasi hat am Montag der Staatsanwaltschaft vier Karteikarten übergeben, die Spitzenkandidaten des Wahlbezirks als ehemalige informelle Mitarbeiter der Stasi ausweisen. Aber weder die Wahlkommission noch sonst Zuständige reagieren darauf.

Die neue Volkskammer wird viele harte und schwerwiegende Entscheidungen treffen müssen. Zu welchen Bedingungen kann die Währungsunion akzeptiert werden? Zahlt die DDR-Bevölkerung den ganzen Preis der deutschen Einheit, oder garantiert die Entscheidungsfreiheit der Volkskammer, dass die Interessen der DDR-Bürger vertreten werden können? Bleiben bei einer Angleichung der Rechtssysteme alle Rechte der DDR Bürger auf der Strecke? Wird die Volkskammer zu der fast alle Parteien vereinigenden Forderung stehen, dass die DDR zu entmilitarisieren ist?

Mit der Vergangenheit und ihren Lügen muss jedenfalls gebrochen werden. Abgeordnete, die wegen Stasi-Tätigkeit von Ost und West erpressbar sind, bilden eine Gefahr für Entscheidungen, die unsere und die europäische Zukunft auf Jahre hinaus bestimmen werden. Die Überprüfung aller Abgeordneten auf eine Stasi-Vergangenheit ist für uns lebenswichtig. Niemand soll sich dadurch bedroht fühlen, denn betroffene Abgeordnete können ihre Kandidatur zurückziehen. Aber politische Wahrhaftigkeit muss möglich sein.

Am Beispiel der Volkskammerabgeordneten stellt sich zum ersten Mal die Frage, die sich unserer zögernden Demokratie noch oft stellen wird: Wie bringen wir die Lüge und die Fremdbestimmung aus unserem öffentlichen Leben? Schonungslose Rechenschaftslegung ist der Ausgangspunkt verantwortlichen politischen Handelns. Die Wahlkommission der DDR hat deshalb die Pflicht, die Überprüfung der gerade gewählten Abgeordneten zu veranlassen. Die Sichtung der Akten muss dabei von glaubwürdigen Personen aus dem öffentlichen Leben der DDR vorgenommen werden und darf auch nicht pauschal der Kirche überlassen werden. Denn es gibt keine Institution in der DDR, die pauschal glaubwürdig ist.

Gerade der Verdacht, dass etliche ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit inzwischen gute Beziehungen zum BND haben, verpflichtet dazu, die Überprüfung in DDR-Hände zu legen. Wenn die Geschichte jetzt nicht aufgearbeitet wird, dann wiederholt sich bei uns, was nach 1945 in Westdeutschland mit dem Überleben der alten Nazis im Staatsapparat - und nicht nur da - verbunden ist. Wir wollen auf unser 68 nicht zwanzig Jahre warten wie ihr.

Bärbel Bohley

die tageszeitung, Nr. 3064 vom 22.03.1990

Δ nach oben