"Mir ist es egal, wann gewählt wird"

Gespräch mit Jens Reich, dem Spitzenkandidaten des Neuen Forums bei den Volkskammerwahlen, über den sofortigen Anschluss nach Artikel 23, gesamtdeutsche Wahlen und die Perspektiven des Bündnis 90

taz: Hat es Sie kalt erwischt, als der Antrag auf sofortigen Anschluss nach Grundgesetz Artikel 23Artikel 23 des Grundgesetzes am Sonntag auf die Tagesordnung der Volkskammer kam?

Jens Reich: Auch wo, darüber reden wir schon seit Wochen. Unter den Gründungsmitgliedern des Neuen Forums ist das mal als Gag erwogen worden. Wir fanden den Staatsvertrag und diese Verfassungsbaracke, die am Sonntag verabschiedet worden ist, so schlimm, dass wir gesagt haben, man müsste dann eigentlich Artikel 23 anwenden, damit man wenigstens noch ein Paar Verfassungs- und Verteidigungsrechte, Gerichtsbarkeit usw. als Widerstandswaffe hat. Der Gag sollte darin bestehen, dass die CDU, die Allianz, gezwungen wäre, den Beitritt nach Artikel 23 zurückzuweisen.

Warum sind Sie gegen einen sofortigen Anschluss?

Ich sehe keine Möglichkeiten, unsere Vorbedingungen wirklich an den Antrag anzubinden. Die Stichworte sind: außenpolitische Fragen, die polnische Grenze, der sicherheits- und militärpolitische Status, die Wehrpflicht, der Paragraph 218, die Bildung der Länder, die Eigentumsfragen, z.B. dass das Nationaleigentum in Ländereigentum umgewandelt und nicht privatisiert wird. Dazu kommt das Wahlgesetz, die Bürgerbeteiligung, also keine reine Parteiendemokratie, ein erweiterter Menschenrechtskatalog in der Verfassung, Umweltrecht als Verfassungsziel.

Gibt es für Sie angesichts des Staatsvertrags und der Verfassungsgrundsätze Gesichtspunkte, die für möglichst frühe gesamtdeutsche Wahlen sprechen?

Mir ist es egal, wann gewählt wird. Die Frage ist: Wie sieht das ganze politische Drumherum aus, nachdem wir in die Bundesrepublik aufgenommen worden sind. Ich habe überhaupt kein großes Interesse an diesen "Reichstagswahlen". So, wie die Situation jetzt ist, werden sie zu einer Zementierung des Parteienstaates bei uns führen, und ich weiß nicht, was da besser sein soll, wenn das erst zwei Jahre später stattfindet. So richtig überzeugend ist das nicht, außer der Taktik, und das ist das, was ich an dieser Diskussion nicht liebe, also wenn Kohl sagt, wenn ihr jetzt sofort wählt, dann gewinnt ihr, in zwei Jahren vielleicht nicht. Die SPD bremst, weil sie meint, auf längere Sicht besser abschneiden zu können.

Nun sieht es aber so aus, als ob es noch in diesem Jahr zu gesamtdeutschen Wahlen kommt. Gibt es in der Fraktion vom Bündnis 90 Überlegungen, sich als Partei zu konstituieren?

Es gibt Vorstellungen, die ganze Politkultur, die bei uns entstanden ist, zusammen mit der alternativen Politkultur drüben in einer großen Neugründung zusammenzufassen, um die ganzen Animositäten auszutreiben. Also ein grünes Bürgerforum zu gründen, oder, wie es neulich hieß, ein Grünes Bürgerforum Jetzt oder so ähnlich, von jedem ein Element im Namen.

Die bundesdeutschen Grünen haben da eine etwas andere Vorstellung.

Mir scheint es, im Augenblick wollen sie mehrheitlich zunächst mal gerne mit den Ost-Grünen fusionieren, was sicher eine sehr stachlige Heirat werden würde, eine Igelhochzeit.

Da gäbe es für die Bürgerbewegungen nur noch die Möglichkeit, offene Listenplätze einzunehmen.

Die Frage von Listenplätzen ist eigentlich mehr eine Frage von einzelnen Gruppen oder Politikern. Das wird vielleicht sogar mehr Schwierigkeiten mit unseren Grünen hier geben als mit den Westgrünen, da ist die Animosität gar nicht so groß. Mit den hiesigen Grünen hat es dauernd Reibereien gegeben. Meine Vorstellung ist, dass wir nicht so richtig in den "Reichstag" passen. Ich glaube, wir sind tatsächlich eine Bürgerbewegung mit kommunalem Schwerpunkt und müssen vielleicht jetzt noch bei der Bildung der Landtage dabei sein, so, wie wir auch in die Volkskammer gehört haben. Im Großen und Ganzen haben wir ja verloren, aber keiner kann sagen, wir hätten gekniffen. Außerdem haben wir doch noch eine Chance, einiges mitzubestimmen.

Im Bündnis 90 gibt es im Hinblick auf gesamtdeutsche Wahlen aber unterschiedliche Tendenzen. Demokratie Jetzt und die IFM haben sich für ein breites Bündnis der ökologisch und basisdemokratisch orientierten Gruppen ausgesprochen. Demgegenüber stellen einzelne Bezirksverbände des Neuen Forums das Bündnis bereits für die Landtagswahlen tendenziell infrage. Ist das Bündnis 90 am Ende?

Das würde ich nicht in der scharfen Journalistenformulierung annehmen. Dieses Bündnis musste Anfang des Jahres sein, bei allen Reibereien war es ein großer Erfolg, dass es zustande kam. Inzwischen sieht es etwas anders aus. Solche Dinge wie der Artikel 23 sind ja nun doch Meinungsverschiedenheiten, die man bei aller Freundschaft in der Fraktion nicht übersehen kann. Dazu kommt, dass das Bündnis ja nur in Berlin und Umgebung existiert. Überall sonst ist es eine künstliche Tarnbezeichnung des Neuen Forums.

Das würde für Sie auch für gesamtdeutsche Wahlen gelten?

Im Falle von gesamtdeutschen Wahlen denke ich, dass wir nicht antreten sollten, denn das müsste heißen, dass wir uns gesamtdeutsch erst einmal konstituieren, und diesen Organisationskrampf bis zum September oder Dezember durchzuziehen, das ist nicht unsere Gewichtsklasse.

Das heißt also: Kein breites Bündnis, und die grünen, links-alternativen, bürgerbewegten Kräfte werden kaum eine Chance haben, den Sprung ins Parlament zu schaffen?

Das ist eine gewisse Resignation. Wenn wir es bei der Volkskammerwahl nicht geschafft haben, den neuen Kräften zum Durchbruch zu verhelfen, wie sollen wir das dann nach dem Staatsvertrag, den Verfassungsgrundsätzen und dem Treuhandgesetz schaffen?

Selbst als Opposition, als Minderheit, kann man mehr durchsetzen, wenn man die Zersplitterung überwindet. Halten Sie angesichts der Probleme, die auf die DDR erst noch zukommen, eine engere Zusammenarbeit im Hinblick auf die Wahlen nicht für sinnvoll?

Das ist völlig richtig. Bei den Wahlen und all diesen Dingen gibt es immer zwei Möglichkeiten. Das eine ist, die Faust zu ballen und zu sagen, das lass ich mir nicht gefallen. Das andere ist: Wer zuerst den Mund aufmacht, fliegt als erster. Also Vorsicht, das haben wir vierzig Jahre geübt. Das andere haben wir ein paar Wochen geübt. Das ist die große Gefahr.

So wie ich die Politik verstehe, kann ich nur helfen, ein solches Bündnis, ein Zusammengehen aller Alternativen, die sich Deutschland ein bisschen anders vorstellen als es uns jetzt übergestülpt wird, zustande zu bringen, wenn ich aus der Bevölkerung, den Freunden und Sympathisanten starken Rückenwind habe.

Das Gespräch führte Beate Seel

aus: taz Nr. 3137 vom 21.06.1990

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