Grundsätze für ein neues Wahlgesetz

Es gibt zwei verschiedene Möglichkeiten, in Wahlen den politischen Willen des Volkes zum Ausdruck zu bringen:

a) die Wahlen von Personen, d.h. von verschiedenen Kandidaten in jeweils einem Wahlkreis für ein Mandat.

b) die Wahl von politischen Parteien und politischen Organisationen (politisches Programm entscheidet), die dann entsprechend ihrem prozentualen Stimmenanteil in der zu wählenden Volksvertretung vertreten sind.

Jede dieser Varianten hat ihre Vor- und Nachteile. Bei der prozentualen Wahl von Organisationen haben auch kleinere Gruppen der Bevölkerung, die im Wahlgebiet in der Minderheit sind, die Möglichkeit, durch Abgeordnete entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil vertreten zu sein. Örtliche bzw. regionale Besonderheiten und spezifische Probleme werden aber durch ihren, auf das gesamte Wahlgebiet bezogenen, geringen prozentualen Anteil nur ungenügend repräsentiert.

Bei der Personenwahl dagegen haben Organisationen und Parteien, die nur einen kleinen Teil der Bevölkerung repräsentieren, kaum eire Chance, ein Mandat zu erringen. Jedoch können örtliche und regionale Besonderheiten und Probleme durch Kandidaten, die genau dieses vertreten (auch durch unabhängige Kandidaten) bei einer Personenwahl durchaus effektiv in der Volksvertretung repräsentiert werden.

Ausgehend von der derzeitigen Verfassung, die für alle Volksvertretungen das Einkammerprinzip vorsieht, ergeben sich darauf folgende Grundsätze für ein neues Wahlgesetz:

1. Die Hälfte aller Mandate der jeweiligen Volksvertretung werden durch Direktwahlen von Personen in den Wahlkreisen besetzt. Die andere Hälfte der Mandate wird entsprechend dem prozentualen Stimmenanteil von den an der Wahl beteiligten politischen Parteien und Organisationen besetzt.

2. Die Zugehörigkeit zu politischen Parteien und Organisationen bzw. die Unabhängigkeit davon muss bei der Direktwahl von Personen auf dem Wahlzettel zum Ausdruck kommen.

3. Die politischen Parteien und Organisationen, die sich zur Wahl stellen, haben für die durch prozentualen Anteil zu besetzenden Mandate eine Liste der dafür zu wählenden Kandidaten aufzustellen. Diese Liste gilt für das gesamte Wahlgebiet. Sie kann maximal doppelt so viele Kandidaten enthalten, wie in dem betreffenden Wahlgebiet mit 100 Prozent Stimmanteil zu besetzen wären.

4. Jede politische Partei oder Organisation kann die ihr entsprechend ihrem prozentualen Stimmanteil zustehenden Mandate mit den Personen aus ihrer Kandidatenliste besetzen, die sie für richtig hält. Sie kann diese Abgeordneten jederzeit abberufen und durch andere aus ihrer Wahlliste ersetzen; die Mandate sind allein an die Organisation gebunden, nicht an die delegierten Personen. Falls eine Partei oder Organisation sich auflöst, bleiben - ihre Mandate bis zu Neuwahlen unbesetzt. Wenn das in der Summe mehr als ein Viertel aller prozentual vergebenen Mandate betrifft, sind sofortige Neuwahlen erforderlich.

5. Die aus der direkten Personenwahl hervorgegangenen Mandate sind allein an die Person gebunden, nicht an die Zugehörigkeit zu Parteien und Organisationen. Falls solche Mandatsträger durch Rücktritt oder Tod ausscheiden, sind Nachwahlen in den betreffenden Wahlkreisen erforderlich.

6. Fraktionen in der Volksvertretung können sich aus Abgeordneten aus beiden Wahlverfahren zusammensetzen.

7. Sowohl wahlberechtigt als auch wählbar ist jeder Bürger der DDR, der das 18. Lebensjahr vollendet hat. Jeder Bürger hat bei der Wahl 2 Stimmen, eine für die Personendirektwahl und eine für die prozentuale Wahl.

Ausländische Staatsbürger sind bei Kommunalwahlen dann wahlberechtigt und auch wählbar, wenn eine unbefristete ständige Aufenthaltsgenehmigung für die DDR erteilt wurde.

8. Im Rahmen des Wahlkampfes muss allen für die Wahl kandidierenden Parteien und Organisationen im gesamten Wahlgebiet bzw. Einzelkandidaten im entsprechenden Wahlkreis die Möglichkeit zur angemessenen Selbstdarstellung in den öffentlichen Medien gegeben werden.

Ihnen müssen uneingeschränkte Möglichkeiten zur Publikation von Druckerzeugnissen und durch Plakatwerbung offenstehen.

9. Die Wahl ist eine geheime Wahl. Das Wahllokal ist so einzurichten, dass jeder Wähler durch eine Wahlkabine gehen muss.

10. Zur Überprüfbarkeit und Kontrolle der Wahlen und der Stimmauszählung kann sowohl jede zur Wahl stehende Partei oder Organisation als auch jede speziell zum Zweck der Wahlkontrolle gebildete Bürgerinitiative Beobachter in alle an der Wahlvorbereitung, Wahldurchführung und Wahlauswertung beteiligten Gremien schicken. Die Beobachter können zur Kontrolle der Wahlauswertung eigene technische Mittel einsetzen.

11. Die Wahlunterlagen sind nach einer Wahl aufzubewahren, bis in dem entsprechenden Wahlgebiet die nächste Wahl stattgefunden hat.

Im Zuge einer Verfassungsreform wäre es wünschenswert, zukünftig ein Zweikammersystem vorzusehen, wobei dann die erste Kammer aus der prozentualen Wahl von Parteien und Organisationen hervorgeht und die zweite aus der Personendirektwahl.

14. 11. 1989

Klaus Tonojan, NEUES FORUM

aus: Leipziger Volkszeitung, 23./24.12.1989

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