Hilferuf

Mit diesen Zeilen wenden sich die in Sassnitz stationierten Armeeangehörigen hilfesuchend an die Öffentlichkeit.

Die vielen positiven Veränderungen in unserem Land haben offensichtlich vor der Armee halt gemacht. Betroffen müssen wir feststellen, dass sich die Situation für uns nicht verbessert hat. Die einzelnen, widerwillig gemachten Zugeständnisse sind relativ unwesentlich und Vorwand für eine Hinhaltetaktik.

Der Ausgang bis zum Dienst bringt effektiv für die meisten kasernierten Armeeangehörigen nichts, weil in der Vergangenheit der Wohnsitz bei der Kasernierung nicht berücksichtigt wurde. Der zusätzlich verlängerte Kurzurlaub ist in Wirklichkeit nicht mehr und nicht weniger als zuvor, denn der Feiertagsurlaub fällt dafür weg und dieser VKU wird an seine Stelle gesetzt. Was für revolutionäre (?) Neuerungen sind Regelungen wie das Tragen eines Schnurrbartes, oder die Abschaffung des Frühsportes?

Wie viel Armeeangehörige besitzen ein eigenes Auto und sind gewillt, es für drei Benutzungen in einem halben Jahr draußen stehen zu lassen?

Die Reisezeitregelung bringt in Wirklichkeit mehr Ungerechtigkeit als Vorteile, weil sie, wie viele Anordnungen, eine zu weite Auslegung durch den Kompaniechef zulassen.

In unserer Einheit wurde ein Soldatenrat gebildet, dessen Aufgabe es sein sollte, zusammenmit Vorgesetzten strittige Fragen zu klären. So wollten wir die Gefahr einer Konfrontation ausschließen, Probleme konstruktiv lösen und jegliche Form von Anarchie vermeiden. Es wurden sowohl ein Statut als auch ein Programm vorgelegt. Jedoch wurde vom Kompaniechef jede Zusammenarbeit abgelehnt. Er besteht auf überholte Dienstvorschriften, die unsere Interessen in keiner Weise berücksichtigen und legt diese für die kasernierten Armeeangehörigen so nachteilig aus, wie es in seinen Kräften steht. Da uns bereits mit Arrest gedroht wurde, sehen wir uns als Vereidigte gezwungen, die Öffentlichkeit um Hilfe und Solidarität zu bitten. Wir halten es für wichtig, dass es bekannt wird, dass es einem Kompaniechef möglich ist, Abkommandierungen von dringend benötigten Arbeitskräften in der Volkswirtschaft aus fadenscheinigen Gründen zu verhindern. Während er seine persönlichen Interessen gefährdet sieht und deshalb, so wörtlich: eine Interessenvertretung von Berufsoffizieren gegen die Volkskammer wünscht, ignoriert er weiterhin eine Interessenvertretung der Soldaten. Eine Veröffentlichung dieser Zeilen halten wir für die einzige Chance, Hilfe bei der Durchsetzung von humaneren Verhältnissen bei der NVA durch die Öffentlichkeit zu erhalten.

K6HA
74826
Sassnitz

Der Soldatenrat

13.12.89

aus: telegraph, Nr. 10, 20. Dezember 1989, Herausgeber: Umweltbibliothek Berlin