Eine Dokumentation des Ministeriums für Innere Angelegenheiten

Berlin (ADN/SZ) Beim Pressegespräch des Ministeriums für Innere Angelegenheiten am Donnerstag - wir berichteten in unterer gestrigen Ausgabe darüber - wurde das folgende analytische Material vorgelegt.

1. Aktuelle Erscheinungen neonazistischer Aktivitäten sind zu unterscheiden nach

a) Handlungen, die von neonazistisch orientierten Personen ausgehen, die sich bereits vor Oktober 1989 zu Gruppierungen zusammengeschlossen hatten

b) spontanen Handlungen nationalistisch orientierter Personen, die im Sog von Pogromstimmungen und aufgeputschten größeren Gruppen mitwirken, ohne sich der nazistischen Richtung der Handlungen bewusst zu sein.

c) Handlungen krimineller Cliquen, die auf der nationalistischen und neofaschistischen Welle mitschwimmen, um Gewaltakte und massive Bedrohungen von Bürgern zu verüben.

Die Ausstrahlung der Handlung dieser drei Schichten auf die Öffentlichkeit ist identisch. Es werden Ängste unter der Bevölkerung erzeugt, das Vertrauen in die Fähigkeit der Staatsorgane, Ordnung und Sicherheit sowie Rechtsstaatlichkeit zu garantieren, sukzessiv weit demontiert und Verunsicherung verbreitet. Daraus kann sich die Überzeugung entwickeln, dass nur "ein starker Mann" fähig sei, Recht, Ordnung und Bürgerruhe wieder herzustellen. In der öffentlichen Meinung ist die Ansicht verbreitet, die gegenwärtigen Protagonisten des organisierten politischen Willens seien mehr mit ihrer Abgrenzung untereinander beschäftigt als mit dar Wahrung von Sicherheit und Ordnung.

2. Erkenntnisse der Kriminalpolizei zu neofaschistisch orientierten Personengruppierungen erstrecken sich auf Straftäter, die nach den Paragraphen 215/216 in Tateinheit mit Paragraph 229 (3) verurteilt wurden und ihr Kontaktfeld. Damit ist nicht die Gesamtheit neofaschistischer Aktivisten erfasst. die zur Zeit in unserem Land wirksam sind.

Straftäter und ihr Kontaktkreis umfassen im wesentlichen Personen von 17 bis 35 Jahre. Die Hälfte dieser Personen sind Facharbeiter in Industrie und Bauwesen. Die zweite Hälfte besteht aus Beschäftigten des Dienstleistungsbereiches, Verkehr, Post- und Fernmeldewesens sowie aus Lehrlingen und Schülern.

Anfänge neonazistisch orientierter Gruppierungen wurden seit 1988/81 festgestellt. Es gab keinen Direktbezug zu Kriegsverbrechern und Altnazis. Diese Anfänge verbinden sich mit Skinhead Gruppierungen und so genannten Nazi Punks in der DDR. Hauptaktivitätsphase der Skinhead Gruppierungen in der DDR waren die Jahre 1984 bis 1987. Während dieser Zeit lösten sich die "Nazi Punks" aus der Punkbewegung und wechselten in Skinhead Gruppen über.

Der relativ gut entwickelten gruppeninternen Organisation der Skinheads wurden neofaschistische Orientierungen eingepflanzt, die von einem Großteil der Gruppen im Gesamtgebiet der DDR mit teils mehr und teils geringerem Widerstand verarbeitet wurden. Die Implantation vollzog sich über Verbindungsaufnahme rechtsradikaler Organisationen aus der BRD und Berlin West zu Skinhead-Gruppierungen sowie durch überregionale Kontakte der DDR-Gruppen untereinander. In die BRD und nach Berlin West übergesiedelte Skinhead-Anhänger leisteten bei solchen Kontaktaufnahmen Unterstützung. In Erscheinung traten: FAP, NPD, Wehrsportgruppe Hoffmann, NSDAP(AO) - und wahrscheinlich weitere.

3. Wichtige Ursachen für Aufnahmebereitschaft neofaschistischer Ideologieangebote bei jungen Bürgern der DDR sind in gesellschaftlichen Problemen unseres Landes zu finden, die sich seit Beginn der 80er Jahre zuspitzten Sie betreffen die Komplexe:

- Arbeitsverhalten,

- nationale Identität,

- schwindendes Ansehen des DDR-Bürgers im Ausland, da er kaum Devisen besaß,

- Ausgrenzung vom Zugang zu hochwertigen Konsumgütern bei Nichtbesitz von Forumschecks, Reisebeschränkungen,

- vergebliches Suchen nach Betätigungs- und Bestätigungsfeldern in der Gesellschaft. Den genannten Defiziten wurden "entgegengesetzt":

- Traditionen "deutscher" Arbeitsdisziplin, Fleiß, handwerkliches Geschick mit Weltgeltung,

- "deutsches Ansehen" in der Welt während der nationalsozialistischen Herrschaft,

- Ehre, Treue, Kameradschaft, Waffen als ethische Werte - nach faschistischem Vorbild,

- "Rassen-Bewusstsein" und Ausländerfeindlichkeit,

- Eroberung der Welt auf den Spuren der faschistischen deutschen Armee,

- aggressiver Antikommunismus

4. Ansätze für politische und ideologische Konzeptionen sind seit 1988 vorhanden. Kern dieser Ansätze: Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1939, raus aus NATO und Warschauer Pakt bei Sicherung voller Bewaffnung, Beseitigung der Herrschaftsverhältnisse in beiden deutschen Staaten. Der Identifikationsgrad mit diesen konzeptionellen Ansätzen in den existenten Gruppierungen ist unterschiedlich ausgeprägt. Bei Vorherrschen allgemeiner Gewaltbereitschaft unterscheiden sich die verschiedenen Gruppen durch die Akzeptanz konkreter Formen der Gewaltausübung. Beispiel: Antisemitismus ja - aber nicht unbedingt Wiederholung der Massenvernichtung in Gaskammern von Konzentrationslagern. Einige meinen, Arbeitslager würden bereits genügen.

5. Die Grundzüge der ideologischen Orientierung bewirken durch ihre Ausrichtung auf militaristische Elemente kausal das Praktizieren einer straffen Organisation innerhalb der Gruppen. Das organisierte Aktivitätsprogramm der Gruppen wiederum ist auf die Ziele "Lernen", "Trainieren", "Erobern" ausgerichtet. Ideologie und Organisation bedingen und fördern einander, reproduzieren sich gegenseitig.

Bis September 1989 wurden bevorzugt angegriffen

- Anhänger der Punkbewegung wegen ihrer "undeutschen" Lebensweise,

- Gruftis (Mode und Musikstilrichtung, die sich mit Totenkulthandlungen verbindet),

- homosexuelle Bürger,

- Ausländer mit dunkler Hautfarbe, Vietnamesen,

- Angehörige bewaffneter Organe und Bürger mit dem Abzeichen der SED.

Die Motivation für Körperverletzungen der genannten Personengruppen drückt sich in der gruppierungseigenen Parole aus: "Ausländer raus, und Kommunisten an die Wand".

6. Erkennbare Ansätze von Strategie und Taktik in den Handlungen der Gruppen geben folgende Merkmale an:

- Konspirative Kommunikation innerhalb und zwischen den Gruppen,

- Präsentation von Anspruch und Zielen in der Öffentlichkeit,

- keine zentralistische Organisation, relative Autonomie der einzelnen Gruppen,

- Orientierung auf "Sozialen Aufstieg" von Gruppenmitgliedern in ihrem beruflichen Tätigkeitsbereich,

- Hinwendung zu legalen politischen Organisationen unter Beibehalten der konspirativen Verbindungen zur Gruppe,

- Nichtbeteiligung arrivierter Anhänger an Straftaten auf der Straße,

- Orientierung von Gruppierungsanhängern auf Arbeitsrechtsverhältnisse in Polizei und Armee.

Insgesamt weisen diese Orientierungen auf Langfristigkeit strategischer Ansätze hin.

7. Strafvollzugseinrichtungen, Jugendwerkhöfe, Jugendhäuser und einige der Jugendheime erwiesen sich bisher als wenig wirksam bei der erzieherischen Beeinflussung von Ideologie und Verhaltensdisposition von Straftätern und kriminell gefährdeten Jugendlichen, die Anhänger solcher Gruppierungen sind. Die Bindungen an ihre Gruppen wurden beibehalten. Die Anerkennung des kriminellen Charakters der Handlungen wird zurückgewiesen.

8. Sympathieerklärungen für die "Republikaner" werden seit 1988 offen propagiert. Infolge der vielgestaltigen kommunikativen Bindungen an diverse rechtsextreme Gruppierungen des Auslandes kann zur Zeit nicht davon ausgegangen werden, dass sich alle existenten Gruppen als potentielle "Zellen" der künftigen "DDR-Republikaner" verstehen könnten. Mit aktionsbezogenen Solidarisierungen quer durch die differenzierte Gesamtszene ist jedoch zu rechnen.

9. Die gegenwärtige Lage in der Gesellschaft bietet günstige Bedingungen für die Bemühungen neonazistisch ausgerichteter Gruppen, ihre personelle Stärke zu vergrößern, da sie ein griffiges, leicht fassbares Orientierungsprogramm anbieten mit dem Hinweis darauf, dass ihnen die Zukunft gehören würde und nur auf ihrer Seite die Chance zu finden wäre, zu den Siegern zu gehören.

aus: Sächsische Zeitung, Nr. 306, 30./31.12.1989, 44. Jahrgang, Sozialistische Tageszeitung für den Bezirk Dresden, Herausgeber: Geschäftsführender Bezirksvorstand Dresden der SED-PDS

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