Das Maul halten werden wir nicht


zu "Dialog mit Ignoranz - wie soll das gehen?"


"Das Volk" hat sich um 18.10.89 zu Ereignissen an den Städtischen Bühnen Erfurt geäußert. Frisch, polemisch, scharfzüngig, wie wir es mögen, wie wir uns auch manche Kritik wünschen, die sich mit unseren Inszenierungen beschäftigt.

Natürlich können wir uns noch eine Zeitlang gegenseitig "Unfähigkeit zum Dialog" um die Ohren hauen, wobei zu fragen wäre, wer denn die "Gegenseiten" sind. Vor allem aber ist zu fragen, ob der wechselseitige Vorwurf der Ignoranz im Interesse derjenigen - Genossen oder nicht - liegt, denen es wirklich um Erneuerung unseres Sozialismus zu tun ist.

Uns schaudert aber schon ein wenig vor einem Blatt, das am 11. Oktober 1989 das "Verlangen unserer Partei" noch Lebensverbundenheit "hochwillkommen" begrüßt hat und sich dem am 12. Oktober "doch sofort geöffnet" hat. War Lebensverbundenheit nicht schon von Lenin als Grundprinzip der sozialistischen Pressearbeit gefordert worden? Na, sie ist offenbar irgendwann in der Geschichte des real existierenden Sozialismus abhanden gekommen. Aber nun haben wir sie ja wieder!

Zu den befohlenen guten Absichten unserer Parteizeitung gehört nun seit dem 12. Oktober auch, keine geschönten Bilder mehr zu malen. Das will sie - sagt sie - lernen. Und das sei ein Prozess.

Ironie der Geschichte: Zu Zeiten, als unser Staat den mehr als 100 000 Bürgern die der DDR den Rücken gekehrt haben "keine Träne nachweinte", als im Wortspiel die Kontinuität vorne und die Erneuerung hinten stand, haben sich Berliner Unterhaltungskünstler sehr sorgenvoll und verantwortungsbewusst an die Staats- und Parteiführung und an die Medien gewandt, um diesen Sorgen Ausdruck zu verleihen. Diese Resolution enthält folgende Gedanken:

- Der Sozialismus in der DDR bedarf dringender Erneuerung im Interesse dieses Sozialismus.

- Es ist erforderlich, dass alle Bürger in diesen Prozess und in die Gestaltung unserer Gesellschaft einbezogen werden.

- Versuche aus der Bevölkerung, verfassungsmäßige demokratische Rechte einzufordern und gesellschaftliche Entwicklung zu analysieren, dürfen nicht kriminalisiert bzw. ignoriert werden.

- Der öffentliche Dialog mit allen Kräften muss sofort beginnen, die Medien haben dabei große Verantwortung; es gilt, die Widersprüche schnellstens zu lösen.

Die Medien haben diese Resolution - Lebensverbundenheit war ja noch nicht verordnet - damals nirgendwo veröffentlicht. Das bewog etwa drei Viertel der Mitarbeiter unserer Theater, den Beschluss zu fassen, sich dem Inhalt anzuschließen und den Text abends von der Bühne herab, zu verlesen. Dies geschieht seit dem 6.10. in allen Sparten.

Zu Zeiten, als die Erneuerung vorne und die Kontinuität hinten zu stehen begann, ist der Text und ein ähnlicher eigener, der von den Sparten des Opernhauses verlesen wird, in der so vorliegenden Form als Forderungskatalog überholt.

Aber - auch im Hinblick auf "Das Volk" vom 18.10. - viele Mitarbeiter des Hauses sehen die Ignoranz halt auf der anderen Seite.

Der Streit ist hart. Einzelne Kollegen fordern Disziplinarstrafen und Entlassung von Mitarbeitern, um die Lesungen einzustellen. Andere wollen für die unmittelbar gesellschaftspolitische Diskussion neue - theatergemäße - Formen finden. Wir empfinden das Problem nicht als ein ästhetisches: Ob es angemessen sei, nach einer dramatischen oder musikalischen Aufführung einen nicht künstlerischen, politischen Text zu lesen. Es gibt in der Geschichte unserer Theater, zahllose Beispiele, wo dies erfolgreich praktiziert wurde.

Aber wir sind im Begriff zu lernen, das die Mehrheit eines Kollektivs das Recht haben muss, sich politisch zu artikulieren, auch wenn sich dies nicht in vorgedachten und "abgesicherten" Bahnen vollzieht. Und wir leben davon, dass das Publikum uns unmittelbar am Abend kund tut, ob es unsere Leistungen akzeptiert. Hinsichtlich der "Zugabe", die sich seit Tagen als Positionsbestimmung artikuliert, hat es das bis jetzt mit überwältigender Mehrheit getan.

Am 14.10. verließ ein Besucher den Zuschauerraum des Opernhauses mit dem Ruf "Halt's Maul !" Gerade das aber werden wir nicht tun!

aus: Das Volk, Nr. 247, 20.10.1989, 45. Jahrgang, Organ der Bezirksleitung Erfurt der SED

Dialog mit Ignoranz - wie so das gehen?

"Sorge um unser Land", so hieß es nachher von der Bühne, habe die Schauspieler jene Resolution verlesen und damit eine "einem Theaterabend fremde Form" wählen lassen - "Premierenzugabe" am Samstagabend im Erfurter Schauspielhaus (gleiche "Zugabe" tags zuvor im Opernhaus, siehe auch den Leserbrief von Herrn F(...) aus Erfurt). [gemeint ist ein Leserbrief, veröffentlicht am selben Tag in der Zeitung "Das Volk"] Und befremdlich war da freilich schon die Form. Denn es war ja wohl niemand befragt worden im Publikum, ob ihm solche "Lesung" denn aushaltbar wäre oder nicht.

Befremdlich aber war nun leider doch viel mehr als eben nur die Form. Denn: Da wurde eingangs der Resolutionsverlesung die Erklärung des Politbüros des ZK der SED vom 11. Oktober verbal erwähnt, und dann wurde gefordert, gefordert, gefordert, was das Zeug hielt. Vor allem gefordert wurde der Dialog. Vor allem den hatte besagte Erklärung doch aber angeboten; "Gemeinsam wollen wir über alle grundlegenden Fragen unserer Gesellschaft beraten, die heute und morgen zu lösen sind." Gefordert wurde, dass der Dialog öffentlich, dass er "endlich" in den Medien sei. Die aber hatten sich ihm ("Das Volk" vom 12. Oktober 1989) doch sofort geöffnet. Denn hier wird er ein eine Million Beteiligte erreichendes Forum haben, was - zugegeben - Zeit brauchen wird, sich dahin zu entfalten und vom Letzten bemerkt zu werden.

Wir denken intensiv darüber noch, wie unsere Zeitung leserverbundener zu machen sei. Wir bedenken viele Ratschläge unserer Leser, auch die kritischsten. Wir denken, und wir ändern. Wir haben nicht einen einzigen Tag gezögert. Lebensverbundene Medien - dies Verlangen unserer Partei ist uns hochwillkommen. Doch wer uns jetzt noch Ignoranz vorwerfen will, der ignoriert die Wahrheit. Da werden wir uns zur Wehr setzen. Und deshalb dieses Wort, in diesem Fall einmal zur Bühne hinauf:

Man hat uns, Medienarbeiter des Sozialismus, zu Recht kritisiert, weil vielen nicht kritisch genug war, was wir schrieben und sendeten. Wahr aber ist auch: Wenn wir bei verschiedensten Treffs mit verschiedensten Lesern unsere Kritiker fragten, ob sie denn wohl die von Zeitung Kritisierten gern sein möchten, hörten wir selbstverständlich immer: "Aber nein, wir natürlich nicht." Auch deshalb blieb so manches und so mancher wohl verschont. Und weil geschont wurde, wurde unversehens so manches "am großen Bild" auch geschönt.

Gehörten dazu aber nicht auch Stücke und Stückeschreiber und Stückespieler? Wohl nicht zu knapp. So war auch für sie manche Schonung keine verdiente und eine geschenkte (von uns!). Nun fordern viele Leser von uns ein solches "Maß der Dinge" müsse sich ändern, und sie fordern Geltung für das Leistungsprinzip. Daran werden wir uns ohne Frage halten.

Also dürfte man mit vielen vielen Leuten im Parkett wohl Nachdenken und Mitteilung davon erwarten, wie gutes, besseres, bestes Theaterspiel jedem Tag erreichbar werde, und wie dem Sozialismus auch so Besserung zu verschaffen sei. Indem es jenen zu noch mehr Genuss und Zuversicht verhilft, die täglich an ihm bauen. Das wäre wohl ein Beitrag zum großen Dialog, den Leute im Parkett gern hören möchten. Das wäre Konstruktivität, wovon am Wochenende nicht einmal ein Hauch von Erfurts Bühnen kam.

Werner H(...)

aus: Das Volk, Nr. 245, 18.10.1989, 45. Jahrgag, Organ der Bezirksleitung Erfurt der SED

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