Berlin, 7. OKTOBER 1990

Erklärung der Berliner Mahnwache

Bereits seit über einem Monat steht die Mahnwache vor den Toren des Stasi-Archivs in der Ostberliner Ruschestraße. Sie fordert, ebenso wie Mahnwachen in Dresden, Leipzig, Potsdam, Gotha und anderen Städten, Zugangsmöglichkeiten für die Opfer zu den Stasiakten und die Verhinderung des Zugangs für Geheimdienste. Auf unseren Druck hin gab es einen Zusatz zum Staatsvertrag in dem die Stasi-Akten einem Sonderbevollmächtigten unterstellt wurden. Wir waren mit dieser Regelung nicht zufrieden, unter anderem, weil in so genannten Sonderfällen der Zugang von Geheimdiensten möglich ist.

Inzwischen haben sich unsere Befürchtungen voll bestätigt. In einer Phase, in der es darauf ankam, grundlegende rechtliche Voraussetzungen für einen geordneten Umgang mit den Akten zu schaffen, wurden die Vereinbarungen des Einigungsvertrages einfach unterlaufen. Wie das BKA-Wiesbaden zeitweise selbst zugab, führen derzeit Kräfte des BKA eine Überprüfung der Stasi-Akten durch. Wenn eine solche Untersuchung im Stasi-Archiv in der Ruchestraße durchgeführt wird, werden dabei unberechtigt Siegel entfernt und damit ein schwerwiegender Bruch des Staatsvertrags begangen.

Wir dachten, dass die Herren wenigstens eine Schamtrist einlegen würden. Aber hier, wie auf anderen Gebieten, können sie sich nicht zurückhalten. Nur ein Jahr nach dem Zusammenbruch des DDR-Regimes beginnt die Einschränkung der Bürgerrechte erneut. Wir bestehen gegenüber den illegalen Rosstäuschermethoden der gesamtdeutschen Politiker auf einem öffentlich kontrollierten Zugang der Opfer zu ihren Akten und auf eine Verhinderung des Zugangs für Geheimdienste und geheimdienstähnliche Behörden aller Couleur. Die Akten gehören nicht den Herrschenden, weder den alten noch den neuen, sondern den Bürgern und besonders den Opfern der Staatssicherheit.

Wir lassen nicht locker!

EURE MAHNWACHE

(am 5. Okt. beschlossen Vertreter von Mahnwachen aus verschiedenen Städten in Dresden einen Verein "Bürger gegen Geheimdienste" zu gründen)

aus: PODIUM - die Seite der und für die BürgerInnen-Bewegung, Initiativen und Minderheiten, in Berliner Zeitung, Nr. 237, 46. Jahrgang, 10.10.1990