"Die Bedeutung der Institutionen nicht unterschätzen"

Interview mit Dr. Rainer Land

Das letzte Jahr überblickend, was muss man festhalten an wichtigen Erfahrungen und Entwicklungen in den Bürgerbewegungen?

Rainer Land: Man muss zunächst mal konstatieren, dass die Bürgerbewegungen sehr erfolgreich ein Staatswesen angeschlagen haben, wenn sicherlich bei der eigentlichen Beseitigung auch andere mitgewirkt haben. Aber dass die Machtstruktur hier in der alten DDR angeknackt worden ist und letztlich beseitigt werden konnte, hat ganz wesentlich mit den Bürgerbewegungen zu tun, also einer Bewegung, die aus zivilem Widerstand gegen ein nicht mehr funktionsfähiges und aggressives Staatswesen entstanden ist. Kurioserweise ist es nun genau umgekehrt, wenn man fragt, was die Bürgerbewegungen eigentlich inhaltlich erreichen konnten in der zweiten Phase nach dem Herbst, und was sie von ihren Vorstellungen einbringen konnten in den deutschen Vereinigungsprozess. Es ist doch fast so, dass sie durch das außerordentlich gut funktionierende Institutionengefüge der BRD ziemlich an den Rand gedrängt worden sind. So dass man im Zweifel ist, ob sie gegen dieses Gefüge etwas ausrichten können, oder ob sie eigentlich nur den Unmut zum Ausdruck bringen können, aber ohne Konsequenz hinsichtlich der praktischen Gestaltungsvarianten. Ich bin mit der Frage theoretisch nicht klar. Fest steht aber schon, dass im Herbst das Machtgefüge der DDR schwer angeschlagen war - wirtschaftlich, politisch und durch die Ausreisewelle war im September auch die Voraussetzung dafür da, dass - als die Bürgerbewegungen den Anstoß gegeben haben, sich die Bürger massenweise gegen die Machtstrukturen in der DDR ausgesprochen haben. Dass das dann umgeschlagen ist in die Wiedervereinigungsentwicklung, ist aber auch ein bisschen eine Konsequenz. Die Bürgerbewegungen haben den Anstoß gegeben, dass die Bevölkerung auf die Straße gegangen ist, sie konnten aber nicht verhindern, dass die Entwicklung in eine Richtung gelaufen ist, die gar nicht ihren ursprünglichen Intentionen entsprach und die sie umgekehrt auch in Zugzwänge gebracht hat. Was die Bürgerbewegungen eigentlich nicht geschafft haben, ist, für die Leute, die sie mobilisiert und auf die Straße geholt haben, auch eine gestaltende Kraft zu werden.

Ich glaube, die Entwicklung vom Herbst fordert noch eine ganze Menge Aufbereitung. Natürlich ist in der Volksbewegung, also in den demonstrierenden Massen, ein kräftiger Schuss nicht bloß politisch bewusster Avantgardismus drin gewesen, sondern auch simpler proletarischer Unmut und eine ganze Menge schlichter materieller Interessen. Die Leute haben damals eben auch die Bürgerbewegungen unterstützt, weil sie darin eine Möglichkeit gesehen haben, ihre Bedürfnisse zu realisieren und zu artikulieren. Das ist dann gekippt. Kurios ist ja, dass die Unterschriftenmenge fürs Neue Forum riesengroß war, aber die Zahl der Stimmen, die es bei den Wahlen bekommen hat, vergleichsweise niedrig.

Also, man muss schon unterscheiden zwischen der demonstrierenden Bevölkerung und insofern kann man eigentlich von Volksbewegung reden, und den Bürgerbewegungen, die sich ja eigentlich aus einer politischen Reflexion von Verhältnissen definiert haben. Es ist nicht gelungen, eine Bewegung zu installieren, die Loyalität gegenüber dem Staat DDR mit dem Willen zur Reform dieses Staats verbunden hat. Nur dann wäre es wirklich zum Reformprozess gekommen, nur wenn es gelungen wäre, die Reformerleute aus der alten SED mit den Bürgerbewegungen zusammenzubringen, was nicht heißt zu verschmelzen, sondern einen kritischen und strittigen Kooperationszusammenhang herzustellen.

Die Bürgerbewegungen haben sich ja nicht gegen Sozialismus ausgesprochen ....

Rainer Land: Die Bürgerbewegungen haben sich zunächst mal gegen ein ganz bestimmtes bestehendes System definiert. Gemeinsam war schon eine bestimmte Haltung, dass die bisherigen Strukturen sich wirklich überlebt und historisch als falsch erwiesen haben, dass man hier einen Schnitt machen und anders weiter machen muss. Aber die Bürgerbewegungen kommen aus einer Oppositionshaltung gegenüber der Macht. Und zu sagen, wir wollen dieses System als reformierendes zugleich mittragen, hätte ja einen Positionswechsel für sie bedeutet. Der wäre nur gelungen, wenn Teile der alten Machteliten, die selbst Reform wollten und die Teile, die dagegen waren, wenn die durch einen Prozess der Auseinandersetzung zu einem bestimmten Konsens gekommen wären. Eine konstruktive, auf Diskussion, Machtteilung und Kompromisse gerichtete Politik ist aber seitens der SED nicht zustande gekommen. Von den Alten war das nicht zu erwarten, und die Reformer innerhalb der SED haben sich nicht aus der Umklammerung der maroden Führung lösen können. Also wenn jemand vor dem Herbst 1989 Symbol der Reformer innerhalb der SED war, dann war es Modrow. Und die Modrow-Regierung hätte eigentlich die Chance gehabt, wenn sie sich mit den Oppositionsbewegungen zusammengerauft hätte, wenn eine offene Politik gemacht worden wäre. Wenn die Bürgerbewegungen in Parlament und Regierung geholt worden wären, nicht erst im Februar, statt mit dem Runden Tisch zu mies umzugehen, wie das Modrow am Anfang tat. Modrow wollte zwar Reformen, aber er wollte die wichtigste Reform nicht: Macht der SED abgeben, teilen. Ich glaube, dass es genug Ansatzpunkte gegeben hat im Oktober-November, dass man das, was die Bürgerbewegungen anfangs auch wollten, Reform des Sozialismus, ein Stück weit auch hätte ausführen können. Natürlich nicht dieses alten Sozialismus, der Unterordnung Aller unter die Staatsmacht bedeutete, sondern eines Sozialismus, in dem die Wirtschaft nicht dem Staat sondern der Gesellschaft, den demokratisch gebildeten Zielen der Individuen, untergeordnet ist.

Es gab ja auch bei uns Diskussionen, ist eine Gesellschaft denkbar, die ohne ein fest gefügtes und mit klaren ideologischen Kontexten versehenes Institutionsgefüge, einschließlich Parteien auskommt, ist also eine Alternative für den Parteienparlamentarismus zu sehen? Die eine Antwort ist, dass das parteienparlamentarische System viele Gestaltungsmöglichkeiten nicht progressiv nutzen kann, das sieht man an der deutschen Wiedervereinigung. Ich glaube, es fehlt ein Korrektiv in diesem System. Insofern liegt der Gedanke recht nahe, zu sagen: die Bürgerbewegungen sind es. Manche haben auch die Meinung, dieses Institutionsgefüge geht überhaupt nicht. Bestimmte Vorstellungen, man könne unmittelbare Demokratie an die Stelle von Institutionen setzen, halte ich aber auch aus theoretischen Erwägungen nicht für richtig. Allerdings ist notwendig, dass solche demokratischen Formen nicht institutionalisierter Art immer wieder in dieses Gefüge hineinbrechen, damit die Verkrustung wieder aufgebrochen wird. Da können Bürgerbewegungen schon eine Funktion haben. Weil die Parteien und die Staatsinstitutionen nicht von sich aus erkennen, wo man in eine neue Richtung gehen muss, zum Beispiel in der Ökologie oder auf kommunaler Ebene. Dann aber besetzen die Parteien, weil ja auch ihre eigene Macht bedroht wird, diese Räume wieder.

Einerseits wird das, was die Bürgerbewegungen angefangen haben, von Parteien aufgegriffen und dadurch auch realisiert. Auf der anderen Seite graben die Parteien aber auch genau dadurch den Bürgerbewegungen das Wasser ab. Der normale Gang der Dinge ist, dass ein Reinstitutionalisierungsprozess den Einfluss der Bürgerbewegungen stark reduziert.

Hat sich denn das Selbstverständnis der Bürgerbewegungen verändert in dem Moment, wo sie bereit waren, sich zur Wahl zu stellen?

Rainer Land: Ich glaube, es gab und gibt eine Auseinandersetzung, ob man in Richtung Partei gehen soll oder nicht. Wofür die Bürgerbewegungen sich auch entscheiden - bestimmte Formen der Institutionalisierung müssen sie übernehmen, wenn sie im politischen System wirken wollen. Auf der anderen Seite wollen sie natürlich ihren Charakter als Bürgerbewegung behalten. Das Selbstverständnis der Bürgerbewegung hat sich dadurch verändert, dass sie aus Opposition zur Macht nun selber irgendwo in dieser neuen Rolle stecken. Was wollen sie denn nun eigentlich positiv machen, und wieweit sind sie bereit, in diesem Gefüge selbst mitzuarbeiten, und inwieweit wollen sie das in einer Bewegung ohne Institutionalisierung tun. Wie das dann am Ende ausgeht, ist mir nicht ganz klar. Ob`s wirklich gelingt, dauerhaft als Bürgerbewegung zu bestehen und zugleich im Parlament zu sitzen, weiß ich nicht genau, es wird wahrscheinlich doch eher so sein, dass Bürgerbewegungen aus bestimmten Problemen heraus immer wieder neu geboren werden, in die politischen Strukturen hineingehen müssen, um dieses Problem anzugehen, eine Lösung durchzusetzen. Und dabei gehen sie in den etablierten Institutionen auf und verschwinden als Bürgerbewegungen wieder, werden eine Partei oder schließen sich einer an. Irgendwann entstehen dann mit neuen Problemen wieder andere Bürgerbewegungen usw. Das wäre die eine Antwort: Die Bürgerbewegungen gehen zwar immer wieder ein, aber sie bewegen trotzdem etwas. Die andere Antwort wäre, vielleicht ist es auch so, dass die Parteien in der jetzigen Form tatsächlich verschwinden werden. Dafür gibt`s ja auch eine Reihe von Anzeichen. Dass sie durch andere Formen ersetzt werden, in denen wieder direkter Bürgerinteressen transportiert werden. Aber das verrückte an solchen Dingen ist ja, dass das alles historisch wachsende Strukturen sind und man sie deshalb gar nicht so rational konstruieren kann.

Ich glaube aber, auf jeden Fall wäre wichtig, die Existenz der Bürgerbewegungen als eine Chance zu nutzen, soweit es irgendwie geht. Und dann wird sich ja zeigen, ob daraus langfristig etwas Positives wird oder nicht. Heute haben sie auf jeden Fall noch die Kraft, wenigstens als Kritik bestimmte Sachen einzubringen. Zum Beispiel die Verfassungsdiskussion ist da sehr wichtig.

Bedeutet das Bündnisschließen, dass die Bürgerbewegungen näher zusammenwachsen, oder bedeutet das, dass sie in Zukunft auch als differenzierte Bewegungen erhalten bleiben? Ist es schon eine allgemeine Tendenz zu sagen, es gibt einen Schrumpfungsprozess, in dem sie untergehen werden?

Rainer Land: An jeder dieser Varianten ist was dran ist. Auf der einen Seite gibt es schon einen Schrumpfungsprozess vor. Auf Dauer werden nicht so starke Basisbewegungen vorhanden sein, wie das im Herbst der Fall war. Aber ich glaube andererseits auch nicht, dass die Bürgerbewegungen nun einfach zu einer Wahlpartei werden. Es gibt genügend Diskrepanzen zwischen der institutionalisierten Struktur dieser Gesellschaft hier und den Individuen, genügend Spannungen, die Probleme aufwerfen, weshalb sich viele Leute sich in solchen Bewegungen engagieren. Insofern wird`s noch genügend Druck von der Basis hergeben, der sich in Bürgerbewegungen artikulieren wird. Und es wäre, glaube ich, nicht sinnvoll, sie zu vereinigen. Was aber auf der anderen Seite passiert, ob man sich da eher bestimmten Parteien im Sinne von Kooperation zuordnen wird, oder ob man versuchen wird, eigenständig in der parlamentarischen Arbeit zu sein, ist glaube ich, noch offen. Das hängt davon ab, wie weit die etablierten und institutionalisierten Parteien bereit sind, diese Bürgerbewegungen zu akzeptieren und da ist ja die Bereitschaft eher gering.

Die Bürgerbewegungen werden versuchen müssen, ihre verschiedenen Gestaltungsansätze irgendwie in die Entscheidungsstrukturen einzubringen. Sie müssen bestimmte Bündnisse schließen oder sich mit bestimmten Parteien verbinden, Kooperationen eingehen.

Wir haben damals die Idee gehabt, eine Partei direkt als Instrument für die Bürgerbewegungen zu konstruieren. Eine neue sozialistische Partei müsste ein Vermittlungsglied zwischen dem staatlichen Institutionengefüge und den Basisbewegungen werden. Das würde bedeuten, dass man einerseits diese Basisbewegungen in den Institutionen vertritt, auf der anderen Seite aber auch Rechtsberatung, konzeptionelle Beratung für Basisbewegungen und Bürgerinitiativen macht. Also eine Partei, die nicht mehr ein Wahlverein ist, sondern die Vermittlung zwischen Bürgerbewegung und Institution herstellt. Ob die Konstruktion funktioniert oder nicht, kann man schwer sagen. Aber das wäre eigentlich der Punkt. Die Bürgerbewegungen haben das Problem, dass sie die Bedeutung der institutionellen Strukturen unterschätzen. Dass sie da mit ihren reinen Wahlbündnissen dauerhaft vielleicht nicht durchhalten.

Es gibt ja bei der Bürgerbewegung noch ein anderes Problem. Sie waren bei ihrer Entstehung und ihrem Selbstverständnis am Anfang doch eine Bürgerrechtsbewegung für die zunächst mal ganz formale Durchsetzung von Bürgerrechten in einem bestimmten Staatswesen. Wenn man die Situation in Deutschland nimmt, ist durch den Beitritt zum Grundgesetz die Rechtslage, was die Durchsetzung von Bürgerrechten betrifft, im Grunde genommen nicht mehr das Problem. Sie können also dieses so definierte Selbstverständnis nicht mehr ohne weiteres beibehalten. Das tatsächliche Problem ist jetzt, wieweit der Sinn dieser formalen Rechte in bestimmten gesellschaftlichen Strukturen und Rahmenbedingungen wirklich erfüllbar wird. Sicher ist das Recht auf Freizügigkeit juristisch kein Problem mehr, aber es ist natürlich schon ein Problem, wenn man die tatsächlichen sozialen Lebensverhältnisse betrachtet, so dass es also im Grunde genommen nur die Chance gibt, aus den formalen Bürgerrechtsbewegungen zu einer Art sozialer Bewegung zu werden, also die sozialen Probleme zum Gegenstand zu machen.

aus: Die Andere, Nr. 43, 14.11.1990, Beilage, Unabhängige Wochenzeitung für Politik, Kultur und Kunst, Herausgeber: Klaus Wolfram

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