das Andere Blatt Nr. 5, 19.02.1990

Liebe Brüder und Schwestern!

Deutschland, einig Vaterland - eine Formel, die durch unser Land geistert - unangetastet, fast drohend. Kaum eine der Parteien, die sich jetzt zur Wahl stellen, verzichtet auf ihre loyale Haltung zu dieser Wahlschlachtformel. Man ordnet sich dem Drängen der Straße unter, wohl wissend, dass sich diese Verbeugung vorm Volk in Wählerstimmen ummünzen wird. Dieser opportune Gleichschritt der Parteien hallt mir schmerzhaft in den Ohren, umso schmerzhafter, da ein anderer gangbarer Weg nicht in Sicht ist. Der Mangel an Zeit überlässt also denen die Geschichte, die ihre 40 DDR-Jahre abwerfen möchten, als hätten sie nie etwas damit zu tun gehabt, als hätten sie nie mitgeschachert, nie mitverdient, wären nie mitgelaufen. Wer war's? - Honecker war's! Im Zweifelsfalle muss der Befehlsnotstand herhalten, denn der hat ja schon mal alles gerechtfertigt. Genau diese Unfähigkeit unserer DDR-Gesellschaft, mit ihrer eigenen Geschichte zu leben, macht den Schrei nach Wiedervereinigung so penetrant. Dass diese ungeahnte Annäherung der beiden deutschen Staaten breite Zustimmung findet, ist überhaupt kein Wunder, denn die zwanghafte Verdrängung der Gemeinsamkeiten war eh schon durch die allabendliche Fernsehemigration durchlöchert. Global gesehen ist diese Entwicklung sicherlich ein Fortschritt, wenn die völlig neue Dimension einer militärischen Abrüstung wahrgenommen wird.

Die mit einer Hauruck-Vereinigung verbundenen Gefahren allerdings werden der Einfachheit halber unter den Samtteppich gekehrt. Wer spricht denn angesichts der anstehenden Varianten von den Härten für die sozial Schwachen, und wem ist klar, dass diese Vereinigung nur denen nützen wird, die eh schon immer ihr Geld clever angelegt haben. Diejenigen, die über das genügende DM-Kapital verfügen, schließen ihre erbarmungswürdigen Brüder und Schwestern samt Einigvaterlandsgelaber in die Arme, weil die ja fleißige Hände haben, die das Vertrauen in diese neue Form der Entwicklungshilfe rechtfertigen. Unsere Anfälligkeit für den Konsumzwang haben wir schon unter Beweis gestellt: sichere Gewinne auf einem neuen Markt vor der eigenen Haustür. Eine Alternative zur Banken-beherrschten Wegwerfgesellschaft kann so natürlich nicht entstehen, obwohl sie dringend nötig wäre. Der ruinierte Ostblock hatte nie die Kraft dazu. Vielleicht kriegen wir das später geschenkt, wenn`s im Westen auch richtig rumpelt. Friedliche Revolutionen muss es doch nicht nur im Osten geben. Die Alternativen im Westen haben zu lange ihre Ideale im Osten gesucht. Vielleicht geht`s ohne den Ballast des "real existierenden Sozialismus" besser. Lasst sie doch was tun!

Matthias