Mitbestimmung!

Ereignisse überschlagen sich. Unser Bewusstsein hat es schwer, ihnen zu folgen. Aber dennoch wird uns immer klarer, dass der Prozess in unserem Lande echt revolutionären Charakter hat.

Hören wir zu und denken wir nach: Was ist das eigentlich, was die Menschen auf die Straße treibt, was sie auf den Plan ruft in Diskussionen, in den Medien? Hören wir zu! Bleiben wir nicht stehen bei den Losungen - sie können auch falsch sein. Klammern wir uns nicht fest an der Einzelmeinung - sie sollte individuell sein. Aber was steht dahinter?

Das Streben, mitzureden.
Das Streben, gesellschaftlich akzeptiert zu werden.
Das Streben, nach tatsächlicher, nicht formaler Mitbestimmung.

Dieser Drang schafft sich Raum in der Losung: "Mehr Demokratie!".

Wir wissen jetzt sehr genau, was wir nicht wollen. Den zerstörerischen Teil erfüllt die Bewegung vorbildlich. Aber was wollen wir schaffen? Wie soll der Mechanismus aussehen, der die unzähligen Meinungen, die die üblichen Kanäle verstopft und zum Überlaufen gebracht haben, verarbeitet und umsetzt in Beschlüsse, Handlungen, Resultate?

Bis jetzt klingt die Antwort so: "Freie Wahlen!", "Parlamentarisches System!", "Rechtsstaat!", "Machtteilung!". Das ist zugkräftig und sammelt Punkte. Aber reicht die wirklich aus? Bringt uns das die Resultate, die Mitbestimmung, die wir wollen? Bei näherem Hinsehen fällt auf, dass diese Losungen doch schon beträchtlich Schimmel angesetzt haben. Sie riechen penetrant nach altem Käse. Der Weg erscheint als der nächstliegende, vertraute Weg. Aber gerade diese Vertrautheit sollte uns warnen. Schon mehrfach haben in der deutschen Geschichte "Freie Wahlen" bewiesen, dass sie ungeeignet, die Souveränität des Volkes zu verwirklichen. Die demokratische Weimarer Republik ging nahtlos in den Faschismus über. Die demokratische Ordnung nach 1945 konnte nicht verhindern, dass letztlich eine kleine Gruppe in der Parteiführung der SED die Macht usurpierte. Man schlägt uns also vor, zu Zuständen zurückzukehren, die zu der heutigen Misere führten. Wir sollen wieder jemand auswählen, an den wir unsere Verantwortung, unser Recht auf Mitbestimmung für den Wahlzeitraum weiterdelegieren. Das Spektakel soll von vorn beginnen. Die Welt will betrogen sein!

"Man soll sich nicht durch andere vertreten lassen!" - wusste schon Konfuzius vor mehr als 2000 Jahren. Wir dürfen nicht bei freien Wahlen stehen bleiben. Wenn wir wirklich weiterkommen wollen, dürfen wir nicht auf Altes zurückgreifen, sondern müssen wir Neues, noch nicht Dagewesenes schaffen.

Stellen wir der Losung "Freie Wahlen" eine andere gegenüber: "Selbstverwaltung!". Ist das nicht der Sinn der Bürgerinitiative? Natürlich ist das unbequemer. Da reicht es nicht, seine Stimme abzugeben oder eine Losung zu tragen. Hier muss es Verantwortung und Mitarbeit geben. Das ist unbequem. Das müssen wir noch lernen. Wählen können wir schon, regieren noch nicht. Aber erst dann ist es doch wirkliche Mitbestimmung! Dann brauchen wir nicht mehr Schuldige für Fehler oder Machtmissbrauch zu suchen - wir selber haben alles zu verantworten.

Es wird nicht von heute auf morgen gehen. Wir werden Formen suchen, finden und einige auch verwerfen müssen. Aber wenn wir wirklich mitbestimmen wollen, wenn wir wirklich "mündige Staatsbürger" sind, dann wollen und müssen wir es schaffen.

Wir haben die Wahl, zu Altem zurückzukehren oder Neues zu beginnen. Wir stehen zwischen Revolution und Konterrevolution.

Freiberg, 15.11.1989 Klaus H(...)

aus gesammelte Flugschriften DDR `90 Heft 3 März 1990, erstellt von der Initiative für eine vereinigte Linke, Technische Gestaltung, Produktion und Vertrieb: ASTA TU Berlin

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