Lieber ein bisschen langsam

Ina Merkel, Kandidatin des Unabhängigen Frauenverbandes für die Volkskammerwahlen, zur Wirtschafts- und Währungsunion mit der BRD

DIE ANDERE: Der Unabhängige Frauenverband hat als Schwerpunktthema die Sozialpolitik. Die spielt eine wichtige Rolle bei der vieldiskutierten Wirtschafts- und Währungsunion mit der BRD. Wie soll die Reihenfolge sein? Und in welchem Zeitraum soll das ganze Programm ablaufen?

Merkel: Das setzt ja schon voraus, dass man ein Konzept der Einheit hat! Ich finde ja gut, dass das jetzt so thematisiert wird. Nehmen wir das Thema Währungsunion: Die Leute fragen sich, was sie von einer Währungsunion haben werden und fangen an, ihre Sparguthaben umzuschaufeln, weil sie Angst haben, die sind dann nichts mehr wert. Sie hören, die Subventionen werden gestrichen - alle Erfahrungen von Wirtschaftswissenschaftlern besagen, dass bei einer Umverteilung von Subventionen die kleinen Leute leer ausgehen, und genau das wird jetzt auch kommen. Damit hat sich in der letzten Zeit auch die Stimmung der Leute verändert. Es gibt nicht mehr einen so starken Drang nach einer schnellen Vereinigung. Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die in der Alltagswelt bisher gewohnheitsmäßig gehandhabt worden sind, die aber jetzt umgebrochen werden müssen. Eine große Verunsicherung entsteht: Was mach ich denn jetzt? Das lässt die Leute denken: Na, lieber einen Schritt zurück und lieber ein bisschen langsamer, ich brauch Zeit, um mich an so was gewöhnen zu können.

Meine Meinung zur deutschen Einheit: Die Bundesrepublik bietet nicht das soziale Wirtschafts- und Rechtssystem, was die Krönung der menschlichen Zivilisation darstellt. Es gibt Formen der demokratischen Mitbestimmung in Amerika oder in Frankreich, die unserer Lebensweise und unserem System viel mehr entsprechen, ähnlicher sind. Ich finde, es ist schon eine Nation, aber es bestehen doch zwei große verschiedene Kulturen in dieser Nation, die man nicht so ohne weiteres wie einen Reißverschluss zuziehen kann. Ich denke mir, dass deswegen länderdauernde Prozesse der Annäherung notwendig sind und dass diese auch eine Reformierung der Bundesrepublik einschließen müssten. Ich kann mir eine sofortige Währungsunion nicht vorstellen. Ich kann mir auch keine Wirtschaftsunion vorstellen. Es sind einfach zu verschiedene, über vierzig Jahre gewachsene Systeme.

DIE ANDERE: Was du dir nicht vorstellen kannst, hast du gesagt, aber was du für wahrscheinlich hältst, hast du noch nicht gesagt!

Merkel: Ich kann dieses schnelle Umschwenken der Politiker und Bankiers im Westen nicht deuten. Für mich ist es ein Problem, wenn der Bundesbankpräsident erst sagt "Um Gottes Willen!" und einen Tag später "Ja". Da weiß ich nicht, ist das eine wahltaktische Aussage oder eine realpolitische.

Ich denke, dass nochmal die Konjunktur angekurbelt werden soll vor der nächsten Überproduktionskrise, und zwar mit Hilfe der Erschließung eines konsummangelgeschädigten Marktes, der für die nächsten Jahre etwas aufnehmen könnte. Es soll zwar das bundesdeutsche Kapital hier reingelassen werden, aber unter der Hand werden sich Betriebe, die in der Bundesrepublik Ansiedlungsverbot haben, hier breit machen, natürlich zu unserem Schaden. Bestimmte Wirtschaftsgesetze, die auch produktiver Art sind, und die es in der Bundesrepublik gibt, haben wir nicht und können sie auch nicht so schnell installieren, wie beispielsweise Hemmschwellen für die Ansiedlung ökologisch schädlicher Produktionen.

DIE ANDERE: Nicht nur die Umweltschutzgesetze fehlen, sondern auch andere Planungsinstrumente - obwohl wir doch die sogenannte Planwirtschaft hatten ... Letzte Frage: Woher, glaubst du, kommt eigentlich dieser Ruf nach Einheit?

Merkel: Ich glaube, das ist der tiefe Wunsch, zu den Starken, zu den Gewinnern zu gehören. Die Deutschen in der DDR möchten nicht die Verlierer sein. Ein Gesellschaftssystem ist zusammengebrochen, wir sehen, dass es den Leuten immer schlechter geht, dass aus dem Zusammenbruch nicht eine neue, produktive Kraft erwächst, sondern eine totale Krise. Sehen wir uns Polen, Ungarn, die Sowjetunion an. Es ist nicht in Prosperität umgeschlagen, sondern in den Niedergang aller noch funktionierenden Regelungsmechanismen. Die Krise sitzt da tief drin. Zwangsläufig würde es bei uns auch dazu kommen, und jetzt ist die große Hoffnung, damit wir keine "polnischen Verhältnisse" bekommen werden, dass uns der große starke Bruder da raushilft. Es ist der Hilferuf nach dem starken Mann. Ich erinnere mich daran, dass am 7. Oktober noch "Gorbi, Gorbi!" gerufen wurde, in der Hoffnung, er wäre der starke Mann, der die Sache für uns regeln könne, und nun ist es also "Helmut, Helmut!". Das ist dieselbe Mentalität.

aus: Die Andere, Nr. 6, 01.03.1990, Zeitung für basisdemokratische Initiativen im Auftrag des Landessprecherrates des Neuen Forum, herausgegeben von Klaus Wolfram

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