Erklärung der Fraktionen von Bündnis 90/Grünen in der Volkskammer und der Grünen im Bundestag zum Staatsvertrag (12.06.1990)

Präambel

I. Mit dem Ende des totalitären Herrschaftssystems in den Ländern Mittel- und Osteuropas geht die Teilung Europas und Deutschlands ihrem Ende entgegen. Angesichts unserer Geschichte tragen wir besondere Verantwortung: für unser eigenes Schicksal und das unserer Nachbarn, die die Entwicklung in Deutschland mit Sorge beobachten.

Wir bejahen die deutsche Einheit. Gleichzeitig betonen wir: Wenn Deutschland Vertrauen erwerben und nicht Angst verbreiten will, muss es die Oder-Neiße-Grenze anerkennen und sich in ein kooperatives Sicherheitssystem einbinden, das aus dem KSZE-Prozess erwächst und an die Stelle der alten Militärblöcke tritt.

Diese neue europäische Vertragsgemeinschaft nimmt den Nationalstaaten einen Teil ihrer bisherigen Souveränitätsrechte in der Außen- und Sicherheitspolitik.

Ein vereintes, entmilitarisiertes Deutschland muss auf den Besitz und den Vertrieb von nuklearen und anderen Vernichtungswaffen verzichten und zur Auflösung der NATO anstatt zu ihrer Stärkung beitragen.

Die Politik für ein demokratisches Europa der Regionen und ein verantwortliches und solidarisches Engagement im Interesse der Länder der Dritten Welt gehören untrennbar zusammen.

II. Das Ergebnis der Volkskammer-Wahl am 18. März 1990 hat gezeigt, dass die Mehrheit der DDR-Bevölkerung eine schnelle Währungsunion will. Die Erarbeitung eines Staatsvertrages ist hierfür eine notwendige Voraussetzung. Allerdings wurden die Bürgerinnen der DDR im Vorfeld der Wahlen über Ausmaß und Risiken des Experiments im Unklaren gelassen.

Den paraphierten Staatsvertrag lehnen wir aus schwerwiegenden verfassungsrechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Bedenken und wegen der schweren sozialen Auswirkungen infolge der unverantwortlichen Terminsetzung für die Währungsunion ab:

- Die DDR gibt ihre Souveränität in entscheidenden Teilen ab, ohne dass die staatliche Einigung zeitlich und sachlich geregelt ist. Die Bürgerinnen der DDR und ihr Parlament werden einem Rechtssystem ausgesetzt, auf das sie keinerlei Einfluss hatten und haben.

- Der Vertrag bedeutet einen kalten Schock für das Wirtschaftssystem mit Massenarbeitslosigkeit und nicht absehbaren sozialen und innenpolitischen Folgen. Das soziale Netz und wirksame Interessenvertretungen sind unterentwickelt und im Vertrag nicht ausreichend abgesichert.

- Der Vertrag führt zu einem Ausverkauf des Produktivvermögens sowie von Grund und Boden in der DDR.

- Frauen, die auch in der Vergangenheit die Hauptlasten der Fehlentwicklungen zu tragen hatten, werden erneut zu den Verliererinnen gehören. Die Sicherung ihrer Interessen ist kein Thema im Staatsvertrag.

- Die Übernahme bundesdeutscher Umweltgesetzgebung bedeutet für die DDR zwar eine Verbesserung, zugleich aber die Gefahr der Wiederholung in der Bundesrepublik gemachter Fehler. Eine ungehemmte Wachstumspolitik produziert zunehmende ökologische Folgekosten und untergräbt unsere Lebensgrundlagen.

Die Mehrheit der DDR-Bevölkerung sieht in Anbetracht der wirtschaftlichen Stärke und des Wohlstands der Bundesrepublik die einzige Alternative in einer möglichst vollständigen Übernahme des bundesdeutschen Wirtschaftssystems. Wir meinen, dass das Versagen 'real-sozialistischer' Kommandowirtschaft uns nicht hindern darf, auch die Mängel und Risiken einer unsolidarischen Wachstums- und Wohlstandsgesellschaft zu benennen und nach Alternativen zu suchen.

III. Auf dem Hintergrund unserer grundlegenden Kritik am vorgelegten Staatsvertrag fordern wir:

1. eine Vereinbarung beider deutscher Staaten zur Bildung einer Verfassungsgebenden Versammlung und eine Volksabstimmung in der BRD und DDR über den auszuarbeitenden Verfassungsentwurf;

2. die weitgehende Streichung der Schulden der DDR-Betriebe gegenüber der Staatsbank der DDR; die verbleibenden Restschulden sollen differenziert umbewertet und ihre Tilgung sinnvoll terminiert werden.

3. Als Gegengewicht gegen den vereinbarten Souveränitätsverlust der DDR in der Geld- und Währungspolitik erhält die Staatsbank der DDR provisorisch bis zur Bildung der Landeszentralbanken in der DDR fünf stimmberechtigte Sitze im Zentralbankrat der Deutschen Bundesbank.

4. Grund und Boden und volkseigene Wohnungen in der DDR dürfen nicht in den Verkauf zur Strukturanpassung und Haushaltssanierung einbezogen werden.

5. Zur breiten Vermögensstreuung sollen alle Bürgerinnen der DDR einklagbare Anteilsrechte am Volkseigentum der DDR erhalten; Belegschaften erhalten durch besondere Anteilsrechte die Möglichkeit, Eigentum an ihren Betrieben zu erwerben und so demokratische Mitbestimmungsmodelle zu verwirklichen.

6. Um akute Gefahren für Leben und Umwelt zu beseitigen, ist der sofortige Ausstieg aus der Atomenergie unumgänglich. Zum Schutz des Klimas ist ein Strukturhilfeprogramm für ein dezentrales, kommunales Energiesystem mit Vorrang für Energieeinsparung und erneuerbare Energiequellen notwendig.

7. Um der absehbaren sozialen Notlage vieler Menschen in der DDR zu begegnen, ist die Einführung einer bedarfsorientierten Grundsicherung und einer dynamisch angepassten Mindestrente erforderlich. (...)

Δ nach oben