Alternative einer kontroversen Diskussion:

Wir brauchen Betriebsräte und starke Gewerkschaften

Die Diskussion für oder wider Betriebsräte wird in unserem Land heftig und kontrovers geführt - und auch ein wenig verwirrend. Für die Betriebsräte sprach zunächst der Zusammenbruch der SED-hörigen und staatstragenden Einheitsgewerkschaft FDGB. Massenaustritte aus dem FDGB führten dazu, dass es in vielen Betrieben von einem Tag auf den anderen keine Interessenvertretung der Werktätigen mehr gab. Darum wählten sich die Werktätigen ihre Interessenvertretung außerhalb des FDGB und nannten sie Betriebsrat, Belegschaftsrat, Institutsrat usw.

Auch manche Leiter "volkseigener" Betriebe fanden sich auf einmal auf verlorenem Posten. Die SED zog sich aus dem Betrieb zurück, die BGL löste sich auf, das übergeordnete staatliche Organ gab keine Weisungen mehr - und das beim Übergang vom alten Planjahr zum neuen Ohne-Plan-Jahr. Während manch ein Betriebsleiter darin die Chance sah, nun endlich einmal den großen Besen schwingen zu dürfen, entsannen sich andere längst verschütteter demokratischer Tugenden und wandten sich hilfesuchend an ihre gesamte Belegschaft - sie initiierten die Bildung betrieblicher Räte als kollektiver Entscheidungsorgane.

Eine historisch einmalige Situation

Gegen die Betriebsräte spricht manches aus ihrer Geschichte, wo sie sich gelegentlich als Nebengewerkschaft verstanden, und gegen sie spricht auch die Erfahrung mit den Betriebsräten in der Bundesrepublik, wo sie im Interesse der Unternehmer den "Arbeitsfrieden" zu bewahren haben.

Es gab natürlich in der Geschichte der Betriebsräte auch positive Beispiele. Eines, das sicherlich nicht unwichtigste, datiert aus der Zeit nach dem Zusammenbruch des faschistischen Deutschland. Die meisten Betriebe lagen in Schutt und Asche. Da machten sich die Überlebenden auf, räumten die Trümmer beiseite, bastelten die Maschinen zusammen und fingen an zu arbeiten. Und sie wählten sich aus ihrer Mitte eine Leitung - den Betriebsrat. Die Betriebsräte der Jahre 1945-1948 organisierten den Wiederaufbau, sie beteiligten sich an der Entnazifizierung, und sie leiteten die Enteignung der Kriegsverbrecher, der Kriegsgewinnler und der Gutsbesitzer ein. Sie initiierten den Volksentscheid über das Volkseigentum. Diese Betriebsräte wurden 1948 auf dem Bitterfelder FDGB-Kongress entmachtet.

Heute nun stehen wir in der DDR vor einer historisch einmaligen und erstmaligen Situation. Alle vorherigen Umwälzungen, welche Betriebsräte hervorbrachten, hatten kapitalistisches Eigentum zum Ausgangspunkt. Hier aber existiert vorherrschend Staatseigentum, das rechtlich niemals aufgehört hat, Volkseigentum zu sein. Insofern sind all jene Belegschaften im Recht, die nun von diesem Volkseigentum auch wieder Gebrauch machen und ihren Betrieb in treuhänderische Verwaltung übernehmen. Und dabei geht es nicht um Mitbestimmung, sondern um die Selbstbestimmung der Werktätigen im Betrieb. Mitbestimmen darf der Staat, bei kleineren Betrieben die Kommune.

Diese in der Geschichte noch nie dagewesene Konstellation erhebt den Betriebsrat in der DDR über alle seine Vorgänger und über seinen bundesdeutschen Namensvetter. Der Betriebsrat eines volkseigenen Betriebes ist das Organ der Eigentümer, so wie der Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft das Organ der Anteilseigner ist. Der Betriebsrat eines volkseigenen Betriebes darf, wenn er das für nützlich und erforderlich hält, Vertreter des Staates bzw. der Kommunen, des Managements und der Banken in sich aufnehmen, aber er muss wie der Aufsichtsrat einer Kapitalgesellschaft - dafür sorgen, dass letztlich die Eigentümer, also die Belegschaft, stets die Mehrheit haben. Und für alle Fälle und weil das auch demokratisch ist, ist festzulegen, dass die Belegschaftsversammlung das letztlich entscheidende Organ ist und bleibt.

Die neue FDGB-Führung schlägt vor, statt der Betriebsräte in den volkseigenen Betrieben Wirtschaftsausschüsse unter Führung der Gewerkschaften zu bilden. Dieser Vorschlag lässt zwei wesentliche Faktoren außer acht: Zum einen die Tatsache, dass der FDGB gerade daran zerbrochen ist, dass er sowohl als staatstragende Organisation als auch konkret in Form jeder BGL und AGL sich in einer Doppelfunktion sah als Miteigentümer am Staatseigentum und als Interessenvertreter der Werktätigen. Die wirtschaftlichen Interessen kollidieren aber gelegentlich mit den sozialen Interessen der Beschäftigten. Und weil allzu oft die sozialen den wirtschaftlichen Interessen untergeordnet waren, gerieten die Gewerkschaftsleitungen in den miserablen Ruf, lediglich verlängerter Arm der Betriebsleitung zu sein. Will sich der neue FDGB wieder in eine solche Doppelfunktion begeben?

Leitungsorgan aller Betriebsangehörigen

Zum anderen haben sich inzwischen auch unabhängige Gewerkschaften und eine Vielzahl von Berufsverbänden gebildet, und etliche ehemalige Gewerkschafter werden sich so schnell überhaupt keiner Organisation mehr anschließen. Erfreut muss man darüber sicher nicht sein, aber als Tatsache zur Kenntnis nehmen muss man dies schon. Angesichts der Vielzahl von Interessenvertretungen und der Nichtorganisiertheit anderer kann nicht eine Interessenvertretung die Eigentümerfunktion aller im volkseigenen Betrieb wahrnehmen, ohne alle anderen, ihrer Organisation nicht angehörenden Mitarbeiter vom Eigentum auszuschließen. So wie der Betrieb allen Belegschaftsmitgliedern gehört, so muss auch sein kollektives Leitungsorgan von allen Betriebsangehörigen gewählt werden.

Darum hat der Betriebsrat im volkseigenen Betrieb - und nur hier - seine Berechtigung, nämlich als kollektives Leitungsorgan der Werktätigen. Die Gewerkschaft hat ihre Aufgaben in Betrieben aller Eigentumsformen, einzig und allein als Interessenvertreterin der Werktätigen. Und indem sie nie wieder betriebliche oder staatliche Leitungsfunktionen mit übernimmt, wird sie auch nie wieder in einen für sie tödlichen Zwiespalt geraten.

Deshalb kann die Alternative nur lauten: Wir brauchen Betriebsräte und starke Gewerkschaften.

Von Hans S(...), VEREINIGTE LINKE.

aus: Neues Deutschland, 45. Jahrgang, Ausgabe 46, 23.02.1990. Die Redaktion wurde 1956 und 1986 mit dem Karl-Marx-Orden und 1971 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnet.

Δ nach oben