Vereinigte Linke
(Wolfgang Wolf)

Wolfgang Wolf, Ökonom, ehemaliges SED-Mitglied, ist Angestellter der Stadtwirtschaft in Ost-Berlin.

Frage: Die Vereinigte Linke (VL) versteht sich als Gruppe links von SDP und Neuem Forum. Wen vertreten Sie?

Antwort: Wir setzen uns aus Mitgliedern verschiedener linker Gruppen der Friedens- und Ökologiebewegung, aus Mitgliedern autonomer Studentenseminare und Fabrikarbeitern, die zum Teil in der Gewerkschaftsarbeit verankert sind, der Gruppe "Gegenstimme" aus der Friedensbewegung und der Gruppe demokratischer Sozialisten sowie einer Reihe engagierter Einzelpersonen zusammen. Die Vereinigte Linke ist ein Bündnis, in dem alle sozialen Schichten vertreten sind. Gegenwärtig dominieren unter dem aktiven Potential noch die Intellektuellen. Aber wir sind davon überzeugt, die Zahl der Arbeiter wird sich durch unsere Bereitschaft erhöhen, einen unabhängigen Kongress der Werktätigen aktiv zu unterstützen. Die Vereinigte Linke arbeitet offen, nach außen wird sie von einem befristet autorisierten, gewählten Sprecherkreis vertreten. Dieser Sprecherkreis bezieht sich auf die einzelnen Regionen. Es kann deshalb sein, dass der Sprecherkreis in Leipzig im Moment zu anderen Entscheidungen in Bezug auf die Tagespolitik kommt als zum Beispiel der Sprecherkreis in Berlin. Eine entsprechende arbeitsfähige Struktur ist bei unserem Treffen am letzten November-Wochenende mehrheitlich besprochen worden.

Weiches sind Ihre inhaltlichen Ziele?

Ein Programm wird gerade erarbeitet. Dabei stellen wir fest, dass es einfacher ist, einen Minimalkonsens zu finden als ein Programm, das von allen linken Strömungen gleichermaßen akzeptiert werden kann. Wir stehen links von der SDP und setzen uns für einen demokratischen Sozialismus in der DDR ein. Darunter verstehen wir eine Gesellschaft, in der die Produktionsmittel sozialisiert sind, das heißt, dass die Werktätigen selbst die Verwaltung der Betriebe übernehmen und sich die "Experten" auf eine Beraterrolle beschränken. Wir setzen uns für eine vollständige Demokratie ein, von der lediglich faschistische, rassistische und militaristische Kräfte ausgenommen sein sollen. Dazu gehört die uneingeschränkte organisatorische und publizistische Freiheit für alle Tendenzen, die nicht unter die drei genannten Kriterien fallen. Wir setzen uns für Formen der direkten Demokratie am Arbeitsplatz, im Wohnviertel, im Stadtbezirk, auf Kreis-, Regional- und Landesebene ein. Die konkrete Form dieser direkten Demokratie (Räte, Kommunen, Rat der Zentralregierung) ist unter uns noch umstritten.

Die Zukunft der DDR hängt wesentlich davon ab, ob es gelingt, die ökonomische Krise zu lösen. Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass es dabei auch zur Übernahme marktwirtschaftlicher Elemente und zur Aufgabe bisheriger sozialistischer Steuerungsinstrumente kommt. Ist der Sozialismus am Ende?

Wir begreifen die Veränderung in Osteuropa und in der Sowjetunion nicht als Ende des Sozialismus, sondern als Ende des Stalinismus - einer antisozialistischen Gesellschaftsform. Der in Polen und Ungarn beschrittene Weg in Richtung Kapitalismus bedeutet für die dortige Bevölkerung Massenentlassungen, Reallohnsenkungen, Subventionskürzungen, Inflation und verstärkte soziale Differenzierungen. Diese Entwicklung trifft auf den noch sehr zaghaften und weitgehend unkoordinierten Widerstand der Werktätigen. In Polen symbolisiert sich dieser Widerstand beispielsweise durch die Kämpfe der Solidarnošć. Solche Tendenzen betrachten wir als Keimformen für einen demokratischen und selbstverwalteten Sozialismus.

Obwohl die begrenzte und vorläufige Ausweitung des Marktes in der DDR offensichtlich nicht umgangen werden kann, sehen wir unsere Perspektive nicht in einer "Mischwirtschaft", wie sie von der SDP angestrebt wird. Der "Dritte Weg" neben Stalinismus und Kapitalismus heißt für uns nicht Markt-Sozialismus, sondern Selbstverwaltungs-Sozialismus. Im Zusammenhang mit den Verhandlungen am "Runden Tisch" ist in der Vereinigten Linken mehrheitlich beschlossen worden, an einem solchen "Runden Tisch" teilzunehmen und unsere Positionen insbesondere zu kommenden Wahlkonzepten öffentlich zu diskutieren. Wir setzen uns dafür ein, dass es noch vor den Wahlen zur Volkskammer einen parteiunabhängigen Volkskongress gibt, bei dem Menschen unseres Landes, insbesondere die Werktätigen, Interesse und Bedürfnisse artikulieren können. Wir gehen davon aus, dass deren Interessen und Bedürfnisse der Maßstab für alle Parteien und Organisationen in unserem Land und für ein zukünftiges Wahlkonzept sein werden. Hauptthema auf einem solchen Volkskongress sollte die Frage nach der zukünftigen Struktur der Gewerkschaften und die Arbeit der unabhängigen Betriebskommissionen und -räte sein. Hier könnten auch die Initiativen von Arbeiterräten dargestellt und von hier die Delegierten der Betriebe für eine breitere Reformregierung entsandt werden.

Dieses Modell erinnert stark an eine Rätedemokratie. Sie unterscheiden sich damit deutlich von den Zielen der anderen Gruppen. Gibt es auch gemeinsame Vorstellungen; Ziele, die gemeinsam durchgesetzt werden können?

Das gemeinsame Ziel aller Oppositionsgruppen ist die Verwirklichung voller Demokratie mit Ausnahme der drei genannten Tendenzen. Die eigentlichen Differenzen beginnen erst bei der Frage, wie die Ökonomie organisiert werden soll. Zur Durchsetzung der demokratischen Ziele streben wir eine punktuelle Zusammenarbeit mit allen anderen Oppositionsbewegungen an.

Freie Wahlen zu parlamentarischen Körperschaften betrachten wir aber nicht als ausreichend. Wir treten darüber hinaus auch für freie und geheime Wahlen in den Betrieben ein (Betriebsleiter, Abteilungsleiter, unabhängige Werktätigenkommissionen, Betriebsräte und so weiter).

Auf einem Gewerkschaftstag Ende Januar soll auch der bisher eng an die SED gebundene FDGB reformiert werden. Welche Rolle werden in Zukunft die Gewerkschaften in der DDR spielen?

Unser Hauptinteresse gilt dem Engagement in den Betrieben. Wir treten für die Bildung unabhängiger Körperschaften der Werktätigen ein, die die jeweiligen betrieblichen Interessen wahrnehmen und allen Betriebsangehörigen, unabhängig von gewerkschaftlicher oder parteilicher Organisierung, offenstehen. Neben solchen Körperschaften sollten Gewerkschaften tätig sein, die sich für die Verbesserung der Arbeits- und Lohnverhältnisse einsetzen. Unter engagierten Werktätigen gibt es drei Positionen zur Gewerkschaftsfrage: Erstens: den FDGB demokratisieren und reformieren, so dass er zu einer wirklichen Interessenvertretung der Werktätigen wird, zweitens: neben dem FDGB eine unabhängige Einheitsgewerkschaft aufbauen; drittens: neben dem FDGB verschiedene unabhängige Gewerkschaften aufbauen. Wir unterstützen alle drei Positionen.

Auch die SED befindet sich im Umbruch. Wie beurteilen Sie diese Wende?

Zunächst gilt es zwischen der linken SED-Basis und dem Parteiapparat zu unterscheiden. Der Apparat betreibt nach wie vor eine Politik der Machterhaltung, des "Teile und Herrsche". Alle bisherigen Zugeständnisse sind ihm durch den Druck der Straße und der Betriebe abgerungen worden. Weitere Zugeständnisse werden nicht anders zu erreichen sein. Deshalb betrachten wir den Kampf für die Selbstaktivität und die Selbstorganisierung als vorrangige Aufgabe, der der Dialog mit den Herrschenden unterzuordnen ist. Wir glauben nicht, dass die SED als monolithischer Block zu betrachten ist. Wir meinen, dass es auch in der SED prodemokratische sozialistische Kräfte gibt, mit denen wir auch zusammenarbeiten wollen. Was die Ergebnisse der Wendepolitik angeht, so hat die Legalisierung unabhängiger Organisationen begonnen. Wir begrüßen auch die "Wende" der offiziellen Berichterstattung, halten aber die Herausgabe eigener Publikationen durch die demokratischen Organisationen für unerläßlich. Die Auflagenhöhe solcher Publikationen darf lediglich durch die Nachfrage bestimmt werden. Die Post muss ihr Vertriebsnetz uneingeschränkt zur Verfügung stellen.

Unter Druck scheint inzwischen auch die Oppositionsbewegung zu stehen. Bei den Demonstrationen wird immer lauter eine Wiedervereinigung gefordert. Sehen Sie hierin einen Ausweg aus der Krise der DDR?

Wir sind gegen eine Wiedervereinigung der beiden Deutschländer auf kapitalistischer Grundlage.

Statt einer Wiedervereinigung favorisieren Sie eine eigenständige Entwicklung der DDR. Erwarten Sie dabei auch Unterstützung aus der Bundesrepublik? Möglicherweise auch von den Arbeitnehmern in der Bundesrepublik und ihren Gewerkschaften?

Ob die Gewerkschaften der Bundesrepublik uns unterstützen können, lässt sich nur schwer sagen. Wir würden uns auf jeden Fall einen viel weniger bürokratisierten DGB wünschen, dessen Führung nicht gelegentlich in Zusammenarbeit mit der SPD kämpfenden Arbeitern in den Rücken fällt (Rheinhausen). Wir sprechen uns auch gegen den Ausschluss linker, klassenkämpferischer Gewerkschafter aus. Wir unterstützen Bestrebungen zum Erfahrungsaustausch und zur gegenseitigen Solidarität zwischen aktiven Gewerkschaftern in der BRD und der DDR (FDBG und Unabhängige). Wir unterstützen intensive Kontakte und möglichst institutionalisierte Kooperationsformen mit denjenigen Bürgern in der BRD, die sich für gewerkschaftliche Rechte und Interessen einsetzen sowie mit allen Kräften, die sich für die Schaffung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung in der BRD engagieren.

Das Interview führte Wolfgang Templin am 28. November 1989.

aus: Demokratiebewegung - wie weiter?, Dezember 1989-Januar 1990, Demokratiebewegung in der DDR, Materialien zur gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, DGB-Bundesvorstand, Abt. gewerkschaftliche Bildung

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