Manuskript 2. Räteerfahrungsaust.
Wolfgang Wolf 9.3.90

Ergebnisse vom letzten Mal:

1. Zum Zweck von Betriebsräten entwickelten sich im Prinzip drei Positionen

- Organe zur Selbstverwaltung sog. VEB durch die Belegschaften;

- Organe zur Legitimierung der Unternehmensleitungen und Zusammenarbeit mit ihnen im Interesse vorgeblicher gemeinsamer Interessen;

- Organe zur Interessenvertretung der Werktätigen gegenüber den Unternehmensleitungen.

2. Zum Verhältnis gegenüber betrieblichen Gewerkschaftsleitungen wurden im Prinzip ebenfalls drei Positionen vertreten:

- Aufgabenteilung zwischen Betriebsräten und betrieblichen Gewerkschaftsleitungen;

- betriebliche Vertretung, Betriebsräte;

- überbetriebliche Vertretung, Gewerkschaften;

- betriebliche und überbetriebliche Vertretung ausschließlich durch Gewerkschaften.

Wichtige Ereignisse, die seither für die Klärung von Bedeutung waren:

1. Annahme des Gewerkschaftsgesetzes durch die Volkskammer, das den betrieblichen Gewerkschaftsleitungen sehr große Rechte bei der Interessenvertretung der Werktätigen einräumt;

2. Beschluss des Zentralen Runden Tisches auf Initiative von VL, FDGB und SPD über die Möglichkeit der Inanspruchnahme gewerkschaftlicher Rechte durch Betriebsräte;

3. Regierungsverordnung über die Einrichtung einer Treuhandstelle für sog. VEB, die im Prozess ihrer Umbildung in AG bzw. GmbH die Einsetzung von Aufsichtsräten und deren teilweise Besetzung mit Vertretern der Belegschaften vorsieht;

4. Prozesse in einigen Betrieben, z.B. den Fuhrhöfen der Müllabfuhr des Berliner Kombinats Stadtwirtschaft, zur Zusammenführung von Arbeiterräten und betrieblichen Gewerkschaftsleitungen;

Standpunk der AG Betriebsarbeit der VL

1. Zur gegenwärtigen Zeit des Übergangs von einer nichtkapitalistischen Ordnung bürokratischer Kommandowirtschaft in Richtung auf eine kapitalistisch fundierte Marktwirtschaft kommt der Vertretung der Interessen der Werktätigen in den Betrieben gegenüber den Unternehmensleitungen zur Wahrung und zum Ausbau ihrer Rechte erstrangige Bedeutung zu. Dazu ist es nötig, sofort und in jedem Betrieb Forderungen zu erheben und (nötigenfalls mit Methoden des Arbeitskampfs) durchzusetzen, um so rechtzeitig Positionen zu besetzen, bevor sich kapitalistische Verhältnisse im Lande stabilisiert haben.

2. Unter diesen Bedingungen wird die Frage, ob die betriebliche Interessenvertretung der Werktätigen durch Betriebsräte oder betriebliche Gewerkschaftsleitungen erfolgt, zweitrangig.
Wichtig ist lediglich, ob diese Vertretung legitimiert ist, alle Werktätigen zu vertreten und ob sie bereit ist, dies auch wirkungsvoll zu tun. Dabei kommt dem Aufbau starker und handlungsfähiger gewerkschaftlicher Vertretungen von unten nach oben überall dort der Vorzug zu, wo die Masse der Kollegen bereit ist, dies zu akzeptieren.

Gründe:

- Die gegenwärtige Rechtslage ist für gewerkschaftliche Interessenvertretungen günstiger (Gewerkschaftsgesetz, Rechte der gewerkschaftlichen Leitungen im AGB);

- Gegenüber der Situation in der BRD haben wir die Chance, die Präsenz der Gewerkschaften in den Betrieben zu sichern;

- Die Verbindung betrieblicher mit überbetrieblicher Interessenvertretung wird so einfacher und effektiver.

3. Wir plädieren daher für folgende Vertretungsformen:

- Wo die überwiegende Mehrheit der Kollegen in einer Gewerkschaft, organisiert ist, sollten neugewählte AGL und BGL diese Vertretung übernehmen.

- Wo der Grad gewerkschaftlicher Organisiertheit zwar die Mehrheit, aber weniger als 80 % beträgt, sollten gemischte Räte (Abteilungs- bzw. Betriebsgewerkschaftsräte) diese Vertretung wahrnehmen.

- In allen anderen Fällen sind Abteilungs- bzw. Betriebsräte nötig.

Der vorliegende Entwurf für ein entsprechendes Gesetz, der von Angehörigen der AG Betriebsarbeit der VL erarbeitet wurde, berücksichtigt dies.

Zum Wesen betrieblicher Mitbestimmung

Genau genommen, ist Mitbestimmung in betrieblichen Angelegenheiten ein Widerspruch in sich. Bei unterschiedlichen, oder im Falle eines Kapitalverhältnisses sogar im Prinzip gegensätzlichen Interessen kommt es immer, darauf an, welche Seite im Konfliktfall die Letztentscheidung hat. Insofern geht es eigentlich um die Frage

- Selbstbestimmung der Werktätigen (was nur unter Bedingungen möglich wäre, die eine Alternative zum Kapitalismus darstellen)

oder

- Selbstbestimmung der Kapitaleigner (Privateigentum oder unter kapitalistischen Verhältnissen agierende staatskapitalistische Unternehmer)

Trotzdem wäre es sektiererisch, auf Mitbestimmung von vornherein zu verzichten. Wir leben gegenwärtig in einer Situation, wo es möglich ist, den Werktätigen die Letztentscheidung in Teilfragen betrieblicher Tätigkeit zu sichern. Ein Recht zur Vertretung betrieblicher Interessen der Werktätigen kann nur den Anspruch auf Mitbestimmung wirklich erbeben, wenn es Bereiche enthält, wo den Werktätigen die Letztentscheidung übertragen ist. Im gegenwärtig geltenden Gewerkschaftsgesetz ist dies durch Veto- und Streikrecht gesichert. Wir müssen dieses Recht auch in einem künftigen Gesetz betrieblicher Interessenvertretungen Übernehmen. Ein solches Gesetz darf keinesfalls dahinter zurückfallen, was an gewerkschaftlichen Rechten, im noch geltenden AGB und im Gewerkschaftsgesetz verankert ist. Der vorliegende Entwurf ist in allen Fragen, wo es um die Aufgaben und Rechte betrieblicher Interessenvertretungen und um die Verfahren zur Regelung von Interessenkonflikten geht, dahingehend zu prüfen.

Man kann das Mitspracherecht in allen möglichen Fällen fordern. Wichtig ist vor allem, in welchen Fragen die Zustimmung der Interessenvertretung Wirkungsvoraussetzung ist.

Unter Bedingungen, wo die Werktätigen vom Verfügungsrecht über, die Produktionsmittel und die Produktionsergebnisse ausgeschlossen sind, kann also nur dort von Mitbestimmung die Rede sein, wo wenigstens bestimmte Teilbereiche, nämlich diejenigen, die die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter und der nicht leitenden Angestellten unmittelbar berühren (finanzielle, materielle, soziale Bedingungen ihrer Arbeit) der Letztentscheidung der Werktätigen unterliegen. Insofern kann das bundesdeutsche BVG für, uns kein Vorbild sein, weil es eben solche Regelungen nicht kennt.

Unsere Bemühungen um solche gesetzlichen Regelungen dürfen aber keinesfalls so auf gefasst werden, als hieße es, mit dem Kampf um die Inanspruchnahme und Erweiterung unserer Rechte zu warten, bis alles in Sack und Tüten ist. Im Gegenteil, ich glaube, dass für unsere weitere Arbeit die folgenden Grundsätze gelten:

- Was erst einmal in einigen Betrieben durchgesetzt ist, lässt sich in anderen Betrieben leichter realisieren.

- Was Arbeiter erst einmal errungen und in betrieblichen Vereinbarungen und Verträgen fixiert haben, lässt sich schwer wieder zurückdrehen;

- Bei der weiteren rechtlichen Ausgestaltung des gegenwärtigen rechtsfreien Raumes (z.B. Gesetze über die, Interessenvertretungen, zum Arbeitsrecht und zum Konfliktregelungsrecht) sollten die Werktätigen sich darauf vorbereiten, einmal errungene Positionen nötigenfalls auch mit Methoden des außerparlamentarischen Kampfes zu sichern.

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