Geehrter Herr Staatsratsvorsitzender!

In diesem Brief möchten wir Ihnen einige Gedanken vorlegen, die uns seit der Verabschiedung des neuen Wehrdienstgesetzes vom 25.3.1982 in Bezug auf die Wehrpflicht für Frauen bewegen.

Wir sind Frauen, mit und ohne Kinder, katholisch, evangelisch oder nicht kirchlich gebunden, einige von uns haben einen Krieg erlebt, anderen ist diese böse Erfahrung erspart geblieben, aber eines verbindet uns, dass wir nicht gleichgültig sind und nicht unsere schweigende Zustimmung zu einem Gesetz geben wollen, dass den Frauen ganz neue Pflichten auferlegt, die nicht mit unserem Selbstverständnis zu vereinbaren sind.

- Wir Frauen wollen den Kreis der Gewalt durchbrechen und allen Formen der Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung unsere Teilnahme entziehen.

- Wir Frauen sehen den Armeedienst für Frauen nicht als Ausdruck ihrer Gleichberechtigung, sondern als einen Widersinn zu ihrem Frau Sein. Wir sehen unsere Gleichberechtigung dem Mann gegenüber nicht darin, dass wir neben den Männern stehen, die die Waffe in die Hand nehmen, sondern neben denen, die wie wir erkannt haben, dass die Abstraktion "Feind" und "Gegner" eigentlich Menschenvernichtung bedeuten, die wir ablehnen.

- Wir Frauen verstehen die Bereitschaft zum Wehrdienst als eine Drohgebärde, die dem Streben nach moralischer und militärischer Abrüstung entgegensteht und die Stimme der menschlichen Vernunft im militärischen Gehorsam untergehen lässt.

- Wir Frauen fühlen uns besonders dazu berufen, das Leben zu schützen, die alten, kranken und schwachen Menschen zu unterstützen. Gegen den Krieg und für den Frieden tätig zu sein kann nur im sozialen und erzieherischen Bereich geschehen, wenn wir nicht vor der künftigen Generation versagen wollen.

- Wir Frauen wehren uns dagegen, dass wir eines Tages in den Reihen der NVA stehen und ein Land verteidigen sollen, das unbewohnbar sein wird, selbst nach einem konventionellen Krieg, der in Europa wahrscheinlich in einer nuklearen Katastrophe enden würde.

- Wir Frauen glauben, dass die Menschheit heute an einem Abgrund steht und dass die Anhäufung von weiteren Waffen nur zu einer wahnsinnigen Katastrophe führt. Dieser schreckliche Untergang kann vielleicht verhindert werden, wenn alle Fragen, die sich aus dieser Tatsache ergeben, öffentlich diskutiert werden. Laut Artikel 65, Absatz 3 der Verfassung der DDR sind Entwürfe grundlegender Gesetze vor ihrer Verabschiedung der Bevölkerung zur Erörterung zu unterbreiten, um die Ergebnisse der Volksdiskussion bei der endgültigen Fassung auszuwerten. Unserer Meinung nach handelt es sich um ein grundlegendes Gesetz auf Grund seiner Thematik und nicht zuletzt deshalb, weil die Hälfte der Bevölkerung der DDR unmittelbar betroffen ist.

- Wir Frauen erklären uns nicht dazu bereit, in die allgemeine Wehrpflicht einbezogen zu werden, und fordern eine gesetzlich verankerte Möglichkeit der Verweigerung. Das Recht der Verweigerung ist notwendig, weil sich durch Erlass dieses Gesetzes, das den Frauen die Pflicht zu einem allgemeinen Wehrdienst auferlegt, eine Einschränkung unserer Gewissensfreiheit ergibt.

Da zu diesem Gesetz keine öffentlichen Diskussionen möglich waren, haben einige von uns diese auf dem Weg der Eingabe erbeten, andere hofften, sich an den sich daraus ergebenden Gesprächen beteiligen zu können. Leider sind diese Erwartungen enttäuscht worden, denn es fand sich niemand bereit, ein Gespräch über die uns so dringend beschäftigenden Fragen zu beginnen.

Die Rede, die das Akademiemitglied Prof. Arbatow auf dem Friedenskongress der Weltreligionen in Moskau gehalten hat, ermutigte uns, uns noch einmal mit unseren Fragen an Sie zu wenden. Wir sprechen die Bitte aus, dass auch die für dieses neue Wehrdienstgesetz Verantwortlichen die Bereitschaft aufbringen, ein offenes Gespräch zu führen. Sicher ist Ihnen diese Rede bekannt, trotzdem möchten wir einige Sätze zitieren.

Prof. Arbatow geht u.a. auf die psychologischen und moralischen Verbündeten des Wettrüstens ein und erwähnt dabei den Mythos, dass die Anhäufung von Waffen und Streitkräften zur Sicherheit beitragen würde.

"Alle diese Mythen fördern das Wettrüsten. Man versucht sie heute in die Form komplizierter Auffassungen und Rätsel zu hüllen, indem man eine für Laien unverständliche Terminologie gebraucht. Ich schließe nicht aus, dass das speziell gemacht wird, um sich von 'Uneingeweihten', vom 'Mann auf der Straße' zu distanzieren. Man sagt sogar manchmal, man solle diesen Mann nicht zu Fragen der Kernwaffen, zu Problemen von Krieg und Frieden heranlassen, denn er werde alles durcheinander bringen und schaden. Aber meiner Meinung nach ist das der größte, gefährlichste und schädlichste Mythos! ... Dieses Problem soll mit aktiver Teilnahme aller gelöst werden, ... wenn sie den Menschen und nicht den Waffen dienen wollen."

Ein besseres Plädoyer für die Notwendigkeit unserer Eingabe hätten wir nicht finden können.

Wir bitten Sie, uns die Möglichkeit für ein offenes Gespräch zu geben.

Zur Kenntnisnahme je einen Durchschlag an
Ministerrat der DDR
Volkskammer der DDR
Bund der ev. Kirchen

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