BÜNDNIS 90

Mit dem Volk haben die Bürgerbewegungen die demokratische Erneuerung des Staates und der Gesellschaft eingeleitet. Wir wollen die errungene Freiheit bewahren und die Rechte der Bürgerinnen und Bürger auf politische Mitbestimmung verteidigen und erweitern.

Wir setzen uns für eine Wirtschaftsreform ein, die soziale Sicherheit und Verantwortung für die Umwelt einschließt. Unser Ziel ist die Entwicklung einer solidarischen Gesellschaft, in der die Freiheit und Lebensqualität jedes Einzelnen der Freiheit, Chancengleichheit und Lebensqualität aller dient. Die Bürgerbewegungen Neues Forum, Demokratie Jetzt und Initiative Frieden und Menschenrechte haben sich zum Bündnis 90 zusammengeschlossen, um eine demokratische Gesellschaft für uns und unsere Kinder zu gestalten, offen für alle.

Bestimmen wir selbst unsere Zukunft!

Die solidarische Gesellschaft

Wir alle müssen es lernen, als mündige und selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger zu handeln. Wir müssen aus der Vereinzelung zur Gemeinschaft kommen. Nur gemeinsam retten wir unser Land. Wir brauchen eine solidarische Gesellschaft. Nicht Ideologien sind wichtig; die Menschen sind wichtig. Das Recht und die Würde eines jeden müssen wir bewahren und schützen. Jedes Kind, jede Frau und jeder Mann muss in unserer Gemeinschaft Geborgenheit finden. Den Schwachen müssen wir Schutz und Hilfe gewähren.

Wir wollen den inneren Frieden unseres Landes wieder herstellen und dem äußeren Frieden dienen. Wir wünschen uns gleichberechtigte solidarische Nachbarschaft mit allen Völkern. Wir wollen eine Weltordnung, in der alle Menschen das gleiche Lebensrecht haben. Mit den armen Völkern der Welt wollen wir teilen. Eine Welt statt drei! Wir wollen die solidarische Welt.

Die Bürger und ihr demokratischer Staat

Freiheit und Würde des Einzelnen und die Solidarität mit allen sollen Maßstab und Ziel der neuen Gesellschaft sein. Die Machtausübung des Staates soll durch eine neue Verfassung rechtsstaatlich geregelt werden. Auf dieser Grundlage sind eine Reform des Zivil- und Strafrechts, eine einheitliche Verwaltungsgesetzgebung, ein neues Wirtschafts- und Arbeitsrecht, eine erweiterte Umweltgesetzgebung sowie der Aufbau einer Verfassungsgerichtsbarkeit notwendig. Über die Gewährleistung der bürgerlichen und politischen Rechte hinaus ist es Aufgabe des Staates, die Wirtschaft an das soziale und ökologische Gemeinwohl zu binden.

Gesetzgebung, Regierung und Rechtssprechung werden getrennt und durch eine vierte Gewalt, die demokratische Öffentlichkeit, kontrolliert. Wir wollen parlamentarische und direkte Demokratie miteinander verbinden. Wichtige Elemente direkter Demokratie sind regionale und landesweite Volksentscheide, öffentliche Entscheidungsvorbereitung zukunftsbestimmender Projekte oder auch Direktwahl des Präsidenten.

Die Regionen und Gemeinden sollen so selbständig wie möglich werden. Größere Selbständigkeit der Kommunen ist unerlässlich; sie müssen mit eigenen Finanzierungsquellen ausgestattet werden.

Marktwirtschaft in der DDR

Der Aufbau einer Wirtschaftsordnung, die unsere begonnene Demokratisierung stärkt, ist das Schlüsselproblem unserer Gesellschaft. Demokratie, Solidarität, Ökologie, Weltoffenheit hängen gleichermaßen davon ab. Das kann nur eine sozial und ökologisch verpflichtete Marktwirtschaft sein, in der die Interessen der Belegschaften und der ganzen Gesellschaft zur Geltung kommen. Wir wollen den Übergang zur Marktwirtschaft so gestalten, dass unsere sozialen Verhältnisse nicht zersetzt werden.

Dazu ist sofort notwendig:

- Gewerbefreiheit im Innern und Kapitalbeteiligung von außen,

- Selbständigkeit der Großbetriebe gegenüber dem Staat und untereinander,

- Demokratische Kontrolle wirtschaftlicher Macht (Wirtschaftsdemokratie).

Die ersten zwei Schritte werden schon getan, der dritte fehlt noch. Die Kräfte des Marktes muss man nur freilassen - die Sicherung sozialer und öffentlicher Interessen muss aber noch geregelt werden! Gewerkschaften, Betriebsräte und Aufsichtsräte mit gesellschaftlicher Beteiligung müssen die tariflichen, kommunalen und ökologischen Interessen wahrnehmen können.

Privateigentum und genossenschaftliches Eigentum sollen gefördert werden. Staatseigentum soll demokratisiert werden. In diesem Kräftedreieck soll der Umbau zur Marktwirtschaft und die Annäherung an das westeuropäische Produktionsniveau vorangetrieben werden. Dazu ist weiter notwendig:

- Staatliche Garantien eines sozialen Mindeststandards für Alle,

- Schrittweise Angleichung des Lohn-, Preis- und Subventionsgefüges an marktwirtschaftliche Verhältnisse,

- Öffnung unserer Wirtschaft nach Europa und zum Weltmarkt,

- eine Strukturpolitik, die unsere leistungsfähigsten Industriezweige bis zur internationalen Konkurrenzfähigkeit voranbringt und allen Regionen unseres Landes gleichen Anteil an der wirtschaftlichen Entwicklung ermöglicht,

- eine Rahmenplanung, die diese Strukturmaßnahmen geldpolitisch, steuerlich und sozialpolitisch umsetzt.

Ohne eine mittelfristige Strukturpolitik für das Wirtschaftsgebiet der DDR ist die Sozialverträglichkeit der deutschen Wirtschaftsvereinigung nicht zu sichern. Der bloße Ausverkauf einer Konkursmasse hat dem Verkäufer noch nie Vorteil gebracht.

Die Bürgerbewegungen treten für die Erhaltung des Rechts auf Arbeit und Wohnraum ein.

Mensch und Umwelt

Die Erhaltung bzw. Wiederherstellung einer gesunden Umwelt ist zum Überlebensproblem unserer Gesellschaft und der ganzen Welt geworden.

Die Schäden, die wir unserer Umwelt zufügen, reichen weit über unsere Grenzen hinaus und tragen zum globalen Umweltproblem bei: Ozonloch, Treibhauseffekt, Risiken der Kernenergie, Vergiftung der Meere.

Ein grundlegender Wandel in der Produktion, im Verbrauch und im Lebensstil wird notwendig werden. Seine sozialen und ökonomischen Konsequenzen sind weltweit noch unabsehbar. Die ökologisch regulierte Marktwirtschaft, die wir heute fordern, kann nur ein erster Schritt sein.

Alle wirtschaftlichen Entscheidungen müssen auf ihre Umweltverträglichkeit überprüft werden. Für Umweltschäden müssen die Verursacher haften. Offenlegung der Umweltdaten, Kontrolle der Einhaltung der Umweltgesetze und die Ahndung von Straftaten gegen die Umwelt halten wir für unerlässlich.

In der Energiepolitik muss die Einsparung von Energie durch moderne Technologien und die Suche nach erneuerbaren Energiequellen Vorrang haben vor der weiteren Nutzung zentraler Großkraftwerke auf Kohle- und Kernkraftbasis. In der Landwirtschaft erstreben wir ein natürliches Gleichgewicht von Ackerbau und Tierzucht, einen schrittweisen Abbau der zentralisierten Massentierhaltung und die Förderung biologischer Methoden im Anbau und in der Schädlingsbekämpfung. Umweltfreundliche Produktion in Industrie und Landwirtschaft ist steuerlich zu fördern. Möglichst geschlossene Produktionskreisläufe mit geringer Deponiebildung sind anzustreben.

Ökologische Grundsätze müssen auch den Städtebau und das Verkehrswesen bestimmen. Wir unterstützen besonders alle Initiativen von Bürgerinnen und Bürgern, unsere Städte und Dörfer vor weiterem Verfall zu bewahren. Das öffentliche Verkehrswesen und der Nahverkehr sollen ausgebaut, modernisiert und weiter subventioniert werden. Wir wollen einen Wandel im Umweltbewusstsein, wir wollen in Solidarität mit unserer Umwelt leben.

Gleichstellung von Frauen und Männern

Ohne die wirkliche Gleichstellung von Frauen und Männern kann eine Wandlung unserer Gesellschaft zu mehr Menschlichkeit und praktischer Solidarität nicht erreicht werden.

Frauen und Männer sollen partnerschaftlich ihre spezifischen Gaben und Fähigkeiten frei entfalten können. Arbeiten und Leistungen sollen unabhängig vom Geschlecht die notwendige gesellschaftliche Anerkennung erfahren. Das erfordert eine neue Sozialgesetzgebung und Familienpolitik. Kindererziehung und -pflege muss auch durch Bezahlung gesellschaftlich anerkannt werden. Die Sozialgesetzgebung muss die Interessen der Eltern und Kinder, nicht die schnelle Regeneration der Frau als Arbeitskraft im Blick haben.

Die marktwirtschaftliche Umgestaltung betrifft Frauen schon heute in besonderem Maße. Um ihre ökonomische Unabhängigkeit zu sichern, sind Veränderungen im Lohngefüge zugunsten frauendominierter Arbeitsbereiche nötig. Um Frauen die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, muss alles getan werden, um ihre Doppelbelastung abzubauen. Die Gleichstellung von Mann und Frau muss sich auch im Recht auf Hausarbeitstag, Krankengeld für Kinder, bezahlte Freistellung verkürzte Arbeitszeiten ausdrücken.

Wir sind für die Einrichtung des Amts einer Gleichstellungsbeauftragten beim Ministerrat und auf allen anderen Ebenen der Verwaltung. Es sollte ein Förderungsfonds gebildet werden, um kommunale Fraueninitiativen unterstützen zu können.

Bildung und Ausbildung

Bildung von Kindern und Jugendlichen ist die Begleitung und Unterstützung ihrer Entwicklung zu verantwortungsvollen und selbstbewussten Menschen. Wir befürworten ein lebenslanges Recht auf Bildung für alle. Die Entwicklung musischer und kreativer Fähigkeiten muss in den Lehrplänen stärker berücksichtigt werden.

Die Tätigkeit der Kinder- und Jugendorganisationen hat unabhängig von der Schule zu erfolgen.

Gesundheit und Soziales

Wir sind für eine Trennung von Gesundheits- und Sozialwesen. Der Anteil des Gesundheitswesens am Staatshaushalt muss dem der modernen Industrieländer angeglichen werden. Das bedeutet eine Verdopplung des bisherigen Anteils.

Gesundheit heißt Einheit von körperlichem, psychischem und sozialem Wohlbefinden. Daraus ergibt sich, dass Gesundheitsfürsorge eine gesellschaftliche Aufgabe ist.

Die allgemeinmedizinische Betreuung soll in Arztpraxen mit festen Arzt-Patienten-Beziehungen erfolgen. Die stationären Betreuungsmöglichkeiten müssen für alle Bürger gleich sein. Chronisch und unheilbar Kranke, Alte und Sterbende bedürfen besonderer Zuwendung. Es müssen Mittel freigesetzt werden, die eine häusliche Pflege ermöglichen. Die Arbeitsplätze zeitweilig Pflegender müssen gesichert werden.

Körperlich und geistig Geschädigte müssen in die Gesellschaft integriert werden. Ihre Betreuung gehört nicht in die Einrichtungen des Gesundheitswesens, sondern obliegt dem Sozialwesen. Zukunftsorientiert müssen wir die Drogen-, Sucht- und AIDS-Problematik aufarbeiten. Sozialarbeiter für die speziellen Gebiete sind auszubilden. Selbsthilfegruppen sind zu fördern.

Kultur, Kunst und Wissenschaft

Wissenschaft, Kunst und Kultur sind als Lebensäußerungen der Gesellschaft unabhängig vom Staat und durch ihn zu gewährleisten und zu fördern.

Wissenschaft, Kunst und ihre Lehre sind frei. Sie dienen der Gesellschaft am besten, wenn sie aus eigenen Quellen schöpfen, international kooperieren, der Wahrheit und dem Leben verpflichtet sind.

Mit der Abschaffung der Zensur sind die Voraussetzungen gegeben, in der DDR die Alltagskultur und die Künste lebendiger, vielseitiger und originärer zu gestalten. Aber ohne Stützung verkommt die Kultur zum Geschäft, Formen und Inhalte von Kunst werden käuflich, die Künstler abhängig und in ihrer Kreativität behindert. Einige Genres können ohne Subventionen auskommen, andere nicht - der Dokumentarfilm oder die Oper zum Beispiel.

Staatliche Subventionen müssen abgebaut, können aber nie völlig ersetzt werden. Neue Formen der Kulturförderung sind zu entwickeln - privates Mäzenatentum, Stiftungen, Unterstützung gemeinnütziger Vereine. Doch auch andere Modelle sind denkbar, wie Künstlerkolonien oder Kulturgenossenschaften, in denen Künstler der unterschiedlichsten Gattungen und Genres mitarbeiten.

Zukünftig wird auch den Künstlern und Kulturarbeitern aus der DDR die Welt und damit auch Westdeutschland offen stehen. Besonders zwischen den deutschsprachigen Ländern wird es einen lebhaften Austausch von Kunst und Künstlern geben. Es ist wichtig, dass dies keine Einbahnstraße von Ost nach West bleibt.

Die Deutschen in Europa

Seitdem die Mauer gefallen ist, schwankt das soziale Gleichgewicht der DDR und das politische der BRD. Das politische Gleichgewicht Europas ist gefährdet.

Wir sehen diese Tendenzen und Gefahren und übertünchen sie nicht mit Worten. Bürgerbewegungen wissen aus eigener Erfahrung, dass Demokratie nur mit sozialen Rechten, Chancengleichheit, Gewaltfreiheit und Solidarität möglich ist. Das gilt auch für Demokratie in Deutschland. Deshalb meinen wir, dass sich eine Einigung Deutschlands auf eine solidarische Gesellschaft gründen und die soziale Stabilität für die DDR-Bevölkerung garantieren muss. Voraussetzung einer deutschen Einheit ist die praktizierte demokratische Selbstbestimmung in der DDR. Nur eine Einheit in Gleichberechtigung ist eine Einheit in Freiheit. Sie kann nur in einem gegenseitigen Annäherungsprozess erreicht werden. Die Bemühungen um eine neue Einheit Deutschlands betrachten wir nicht als Hindernis, sondern in ihrem Streben nach Entmilitarisierung als Motor für die europäische Einigung.

Ein nationaler Beitrag zur europäischen Friedensordnung bedeutet für uns:

- Entmilitarisierung der beiden deutschen Staaten,

- ruhende Mitgliedschaften im Warschauer Pakt und in der NATO; Eintreten für die Umwandlung der Militärbündnisse in politische Allianzen,

- Garantie der Oder-Neiße-Grenze,

- soziale Sicherheit für alle, Recht auf Arbeit, Recht auf Wohnraum in beiden deutschen Staaten,

- Demokratisierung in der Wirtschaft, betriebliche und kommunale Mitbestimmung,

- gerechte Wirtschaftsbeziehungen zu den Ländern der Zwei-Drittel-Welt.

Einen deutschen Sonderweg, der in die NATO führt, lehnen wir ab.

Abrüstung - Weltwirtschaft und Nord-Süd-Verhältnis

Unsere Sympathie gilt allen, die dem Frieden ohne Gewalt dienen wollen. Wir treten für eine Entmilitarisierung der Gesellschaft ein, für einen sozialen Friedensdienst und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung.

Unsere geistigen und wirtschaftlichen Potenzen sowie die durch Abrüstung eingesparten Gelder wollen wir nicht nur für uns, sondern auch für einen Abbau des Nord-Süd-Konfliktes einsetzen. Wir setzen uns für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung und für einen Schuldenerlass gegenüber den ärmsten Ländern ein.

Wir sind für eine Asyl- und Ausländergesetzgebung, die ein gleichberechtigtes Zusammenleben mit Menschen anderer Völker und Rassen ermöglicht.

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