Am Runden Tisch wird auch das Regieren gelernt

BZ-Gespräch mit dem Moderator Oberkirchenrat Martin Ziegler

Jeden Montag sind im Konferenzzentrum Niederschönhausen drei Männer der Kirche mit einer äußerst diffizilen Aufgabe betraut mit der Gesprächsleitung des Zentralen Runden Tisches. Einer der Moderatoren seit der ersten Dezemberrunde im Bonhoeffer-Haus ist Oberkirchenrat Martin Ziegler vom Bund der evangelischen Kirche. Mit ihm sprach BZ über die Arbeit des Runden Tisches und der Moderatoren.

BZ: Der Runde Tisch hat vergangenen Montag die 11. Runde hinter sich gebracht. Mit einiger Sicherheit wäre das ohne die vermittelnde, konstruktive Arbeit der Moderatoren nicht möglich gewesen, die Gespräche vielleicht sogar schon beim ersten oder zweiten Anlauf gescheitert.

M. Ziegler: Das ist eine Frage, die ich eigentlich nicht beantworten kann. Wir Moderatoren haben die Übereinkunft, uns jeder Wertung zu enthalten, da wir sonst doch Partei ergreifen würden. Vielleicht soviel: Nach der dritten Sitzung fasste der Runde Tisch den Beschluss, die Kirche möge die Gespräche weiter leiten. Das ist sicher darauf zurückzuführen, dass wir uns jeder Mitabstimmung, jeder Bewertung enthalten haben. Bei den Gegensätzlichkeiten, mit denen alles begann, war absolute Neutralität die einzige Möglichkeit, den Runden Tisch in Gang zu bringen und auch in Gang zu halten.

BZ: Wie wurde die zuvor schon in anderen Ländern praktizierte Idee des Runden Tisches bei uns Realität?

M. Ziegler: Eine Initiativgruppe unter Federführung der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt trat an das Sekretariat des Bundes der evangelischen Kirche und an die Berliner Bischofskonferenz heran mit der Bitte, in das Haus der Kirche einzuladen, damit wir ins Gespräch kommen über Gegenwartsprobleme, über die politischen Konflikte der Gesellschaft. Unter Beteiligung aller politischen Kräfte.

Mit dem Ja der Kirchenleitung haben wir zugesagt, uns diesen Fragen zu stellen, wohl wissend, dass viel von unserer eigenen Arbeit liegenbleiben würde.

Von der ersten Sitzung an hatten wir ein Problem, das uns bis in die letzte Runde begleitete. Es ist nicht möglich, alle neuen Kräfte am Runden Tisch zusammenzuführen - es wäre dann fast eine kleine Volkskammer. Und, was noch wichtiger ist. dann wäre das Prinzip von Rede und Gegenrede, das die Arbeit jetzt bestimmt, nicht durchzuhalten und sachbezogene Arbeit kaum mehr möglich. Darum beschloss der Runde Tisch am Montag vor einer Woche einen Aufnahmestopp - nicht zuletzt mit Blick auf die vorgezogenen Wahlen. zu diesem Termin sind ja noch zahlreiche Sachthemen abzuarbeiten.

BZ: Gerade im Zusammenhang mit dem 18. März besteht doch die Gefahr, dass Profilierung noch mehr im Vordergrund steht und für die Zukunft entscheidende Sachfragen zurückgedrängt werden.

M. Ziegler: Die Vertreter am Runden Tisch haben erkannt, dass Sachfragen der beste Weg zur Profilierung sind. Die Auseinandersetzungen darum - zum Beispiel jetzt um die Preispolitik dienen der Klärung von Positionen, denen man bei der ersten freien und geheimen Wahl verpflichtet sein will. Man muss nur sehen, dass nicht alles in wahltaktische Manöver übergeht.

BZ: Die Runde in Niederschönhausen hat es nach dem Urteil vieler Beobachter sehr schwer gehabt, zu ihrem demokratischen Selbstverständnis und damit zu einiger Konstruktivität zu finden.

M. Ziegler: Man darf bei dieser Kritik nicht übersehen, es waren eigentlich drei schwierige Aufgaben auf einmal zu bewältigen.

Erstens: Demokratisches Verhalten musste geübt werden. Es führte zu langen Debatten über Verfahrensfragen. Das wiederum brachte viel Unmut aus der Bevölkerung ein, gehörte aber einfach in den Lernprozess hinein. Denn es rächt sich, dass es 40 Jahre bei uns keine Opposition gab anderswo lernt man auch Regieren in der Opposition.

Zweitens: Vergangenheitsbewältigung ist notwendig. Das machte sich fest an der Forderung nach Auflösung des MfS beziehungsweise des Amtes für Nationale Sicherheit. Da dies sehr zögernd vor sich ging, provozierte das Spannungen und immer wieder Diskussionen, die auf die Öffentlichkeit destruktiv wirkten. Aber - man kann Neues nicht bauen, wenn man Altes, als nicht gut Erkanntes, stehenlässt.

Drittens: Alle wollten etwas Neues machen, die Gesellschaft zum Guten ändern. Aber Konstruktivität begann doch erst, als es um Konkretes wie Wahlgesetz und Wirtschaftsfragen ging. Einen enormen Schwung brachten die zwei Besuche des Ministerpräsidenten. Da ist Entscheidendes passiert. Der Runde Tisch sah sich voll ernst genommen von der Regierung, seitdem ist das konstruktive Verhalten gewachsen.

BZ: Viele Leser stellen uns immer wieder die Frage nach der Legitimität des Runden Tisches.

M. Ziegler: In den ersten Sitzungen wurde diese Frage von den Neuen vor allem in Richtung Volkskammer, Regierung, etablierte Parteien gestellt. Die Kommunalwahren des vorigen Jahres mit ihren fragwürdigen Ergebnissen waren noch immer gut im Gedächtnis. Aber diese Frage wurde natürlich bald zurückgegeben: Wie viel Leute stehen denn eigentlich hinter euch, wen vertretet ihr?

Meiner Meinung nach hatte noch keine Partei die Gelegenheit, frei gewählt zu werden. Das betrifft also alle am Runden Tisch. Seine Legitimation aus meiner Sicht: Hier haben sich Leute getroffen, die Verantwortung wahrnehmen wollten für die Umgestaltung der Gesellschaft.

Diese Frage kann aber eigentlich erst durch die Wahlen befriedigend beantwortet werden. Nur der Wähler kann Legitimation geben.

BZ: wie arbeitet man mit den zahlreichen Reaktionen der Bevölkerung, mit ihren durchaus ernst zu nehmenden Bedenken, Vorschlägen und Fragen?

M. Ziegler: Die Flut von Post und Anrufen ist von unserem kleinen Arbeitssekretariat und uns drei Moderatoren im Grunde schon nicht mehr zu bewältigen. Dennoch: Jeder Brief wird gelesen, jeder Anruf notiert. gehen unmittelbar an die Arbeitsgruppen, damit sie in die konkrete Arbeit einfließen können. Alle Briefe werden sortiert auch um ein Stimmungsbarometer der Bevölkerung zu haben. Sehr anerkennenswert ist die Bereitschaft von Radio DDR, eine Extrasendereihe auszustrahlen, in der Mitglieder des Runden Tisches Hörerfragen beantworten.

BZ: Der Runde Tisch könnte vielleicht auch in ganz anderer Hinsicht eine besondere Bedeutung für unseren Alltag gewinnen. Letztendlich wird hier doch vorgeführt, wie durchaus konträrer Meinungsstreit mit Bedacht und Toleranz für anderes Denken geführt werden kann - nicht zuletzt dank der Moderatoren.

M. Ziegler: Ja. ich habe durchaus den Eindruck, dass sich schon eine Streitkultur entwickelt hat. Als ich am 7.12. den Runden Tisch eröffnete, hatte ich eine große Furcht, dass es hier zu gegenseitigen Angriffen, Diffamierungen kommen könnte. Ich sagte, wir würden um die Härte der Sache nicht herumkommen. Aber das dürfe nicht Härte in der Form bedeuten. Und es setzte sich auch wirklich der Wille durch, fair miteinander umzugehen, nicht nur Behauptungen aufzustellen, sondern auch Gründe aufzuzeigen.

Woran ich vor vier Wochen noch nicht geglaubt hätte, am 29.1. wurde eine Erklärung verabschiedet, in der sich alle Teilnehmer für eine Sicherheitspartnerschaft mit der Volkspolizei aussprachen. Auch jene, die zuvor mit Vehemenz gegen alle alten Sicherheitskräfte polemisierten. Das zeugt davon, dass in dieser Runde alle gewillt sind, mit Besonnenheit die Dinge voranzutreiben, einer Radikalisierung des politischen Alltags entgegenzuwirken.

BZ: Nach den Wahlen wird es wahrscheinlich keines Runden Tisches mehr bedürfen, obwohl Ihre Erfahrungen als Moderatoren sicher weiter gefragt bleiben.

M. Ziegler: Der Runde Tisch hat nach den Wahlen am 18. März und am 6. Mai keine Berechtigung mehr. Alle haben dann ihre legitimen Vertretungen und müssen im Vollzug der Arbeit lernen - learning by doing. Wir als kirchliche Moderatoren hatten einen Vorteil: Durch die innerkirchliche, synodale Arbeit und die früheren Kontakte mit Oppositionsgruppierungen waren wir schon geübt in solcherart Gesprächsführung.

Ich hoffe aber, nach den Wahlen, nach einer gewissen Übergangszeit, werden wir uns wieder verstärkt unserer eigentlichen Arbeit widmen können - dem Wirken in den Gemeinden, als Ansprechpartner für Menschen ganz unterschiedlicher Ansichten.

Das Gespräch führte
Bettina Urbanski

Am Runden Tisch sitzen folgende Parteien und politische Vereinigungen: FDGB, Vereinigte Linke, SPD, Demokratie Jetzt, Neues Forum, Grüne Partei, Initiative Frieden und Menschenrechte, Grüne Liga, Unabhängiger Frauenverband, Demokratischer Aufbruch, PDS, VdgB, CDU, DBD, NDPD und LDPD. Beobachterstatus haben: FDJ, Katholische Laienbewegung, Kulturbund, Freie Demokratische Partei, Deutsche Soziale Union, Runder Tisch der Jugend, Deutsche Forumpartei, DFD, Konsumgenossenschaft, Unabhängige Volkspartei und Europaunion der DDR.

aus: Berliner Zeitung, Jahrgang 46, Ausgabe 33, 08.02.1990. Die Redaktion wurde mit dem Karl-Marx-Orden, dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold und dem Orden "Banner der Arbeit" ausgezeichnet.

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