Keine Dienstmagd der Industrie

"Initiativgruppe Wissenschaft" für eine breitere Mitsprache

Bereits im November bildeten Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR eine "Initiativgruppe Wissenschaft". Eines ihrer wichtigsten Ziele ist erreicht, wenn an dieser größten Wissenschaftseinrichtung des Landes ein Rat der Institutsvertreter gebildet ist, der, vergleichbar mit Betriebsräten, mehr Gerechtigkeit und Demokratie "von unten" in den Forschungsbetrieb bringen soll. Einzelheiten erfuhren wir von Dr. Reinhard Miller, einem der Sprecher der Gruppe.

BZ: Was ist die Initiativgruppe Wissenschaft?

Dr. Miller: Eine Reihe von Mitarbeitern verschiedener Institute der Akademie, darunter sowohl Nachwuchswissenschaftler als auch renommierte Akademiemitglieder.

BZ: Mit welchen Zielvorstellungen kommen Sie zusammen?

Dr. Miller: Lassen Sie mich indirekt antworten. Wenn ein Rat der Institutsvertreter nach geheimer Wahl durch, die Belegschaft gebildet und als Interessenvertreter der Mitarbeiter aller Institute arbeitsfähig ist, haben wir unser wichtigstes Ziel schon erreicht und können darüber nachdenken, ob wir weiter als Initiativgruppe nötig sind.

BZ: Vergleichbar wäre dieser Rat mit Betriebsräten.

Dr. Miller: Dieser Vergleich ist recht genau. Der Rat als Vertreter der Mitarbeiter (Belegschaft) der Akademie soll sich vorrangig um soziale Fragen, Probleme der Arbeitsbedingungen oder um technische Angelegenheiten der Forschung kümmern, kurz um das, was den Forschungsalltag ausmacht.

BZ: Nun scheint darüber hinaus auch mehr Kompetenz "von unten" bei der Auswahl der Forschungsthemen, der Forschungsstrategie usw. sinnvoll zu sein.

Dr. Miller: Deswegen wird es noch ein zweites Gremium geben, einen wissenschaftlichen Rat, dem ebenfalls demokratisch gewählte Wissenschaftler angehören sollen und der bei der Akademieleitung Mitspracherecht hat.

BZ: Welche Mängel bestanden denn in der Vergangenheit, die solche neuen Gremien erforderlich machen?

Dr. Miller: Man kann es auf die Formel bringen, dass wir einerseits einen verzerrten Forschungshorizont hatten, andererseits eine verzerrte Leistungsstruktur und -bewertung. Nach unserer Auffassung wurden uns durch verschiedene Mechanismen zu sehr die Tagesprobleme der Industrie aufgestempelt. Wir haben nichts gegen eine Zusammenarbeit mit der Industrie, doch dürfen wir keine Dienstleistungseinrichtung sein, kein Ersatz für fehlende Forschungskapazität in den Betrieben. Wir als Akademie müssen vor allem Grundlagenforschung betreiben, auch wenn nicht immer klar ist, was dabei "Praktisches" herauskommt. Aber es ist der Wissens- und Erkundungsvorlauf für morgen, auf den kein Land verzichten darf. Anders gesagt: Wir wollen und können nicht Tagesprobleme der Industrie von heute lösen, aber durch Vorlaufforschung die Lösung der Wirtschaftsprobleme von morgen vorbereiten.

Was die Leistungsbewertung anbelangt, so stand die Erfüllung unserer wissenschaftlichen Aufgaben in der Vergangenheit kaum zur Debatte. Die Pläne wurden mit Selbstverständlichkeit hundertprozentig erfüllt (sie waren auch so angelegt). Den "Forschungstag" unserer Leiter machten so wichtige Fragen aus wie: Wie viel Neuerervorschläge gibt es in deinem Institut, wie viel Jugendobjekte, wie viel Kampfgruppenmitglieder usw. Jetzt wollen wir die wissenschaftliche Leistung des einzelnen wieder in den Vordergrund stellen und Leiter dazu, die nach Fachkompetenz sowie menschlichen Qualitäten ausgewählt werden und nicht nach dem Kriterium der Zugehörigkeit zu einer Partei.

BZ: Die Initiativgruppe hat deswegen auch an einem neuen Statutenentwurf für die Akademie mitgearbeitet, der gerade von den Mitarbeitern diskutiert wird. Sehen Sie dann Ihre Initiative für beendet an?

Dr. Miller: Als Initiativgruppe wahrscheinlich ja. Allerdings denken wir parallel zu alledem daran, ein wieder engeres Zusammengehen der Wissenschaftseinrichtungen im nationalen Rahmen zu initiieren, Barrieren abzubauen, namentlich zwischen Hochschulen und den Akademien. Auch schwebt uns eine Art nationales wissenschaftliches Gewissen der DDR vor. Das müsste so etwas sein wie der jetzige Forschungsrat, jedoch regierungsunabhängig, erneuerbar sowie besetzt von namhaften und integren Wissenschaftlern unseres Landes.

Das Gespräch führte
Dr. Michael Ochel

aus: Berliner Zeitung, Jahrgang 46, Ausgabe 42, 19.02.1990. Die Redaktion wurde mit dem Karl-Marx-Orden, dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold und dem Orden "Banner der Arbeit" ausgezeichnet.

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