Beobachtungen in Karl-Marx-Stadt 8./9.1.1990

Die städtischen, bislang (d.h. bis Oktober 1989) tonangebenden politischen und gewerkschaftlichen Strukturen sind von der Bildoberfläche verschwunden. Das Haus der Bezirksleitung der SED dient nun als Anlaufstelle für unterschiedliche politische Gruppierungen der Stadt. Der ortsansässige FDGB war für mich nicht aufzufinden, er spielt keine Rolle in der Stadt, auch nicht am örtlichen "Runden Tisch".

Die FDGB-Präsenz in den Betrieben soll unterschiedlich sein, der äußere Körper bleibt aber voll funktionsfähig. BGL (Betriebsgewerkschaftsleitung) wurden nur z.T. neu gewählt, oft thront auf der geschrumpften Mitgliedergruppe der alte BGL-Vorsitzende. Oftmals bangen die in FDGB verbliebenen um Vorteile (kleine oder große), die aus ihrer z.T. langjährigen Mitgliedschaft erwachsen sind. Andererseits finden sich auch BGL-Mitglieder die in oppositionellen Gruppen mitarbeiten und Forderungen von dort, z.B. nach Betriebsräten, unterstützen.

Neben dem FDGB haben sich im Karl-Marx-Städter Raum neue Initiativen der Interessenvertretung gegründet. Für sie steht - auch angesichts der bevorstehenden/erwarteten Firmenbeteiligungen aus dem Westen - die betriebliche Interessensvertretung und -wahrnehmung im Vordergrund. Diesen Betriebs- oder Belegschaftsräten, oder wie sie in Karl-Marx-Stadt heißen: "Räten der Werktätigen" (RdW), soll neben weitgespannten Kontrollrechten ein erweitertes Mitbestimmungsrecht bei allen wirtschaftlich relevanten Entscheidungen eingeräumt sein - so die Vorstellung der Initiatoren. Begründung dabei ist das z. Zt. bestehende Volkseigentum an den Betrieben und erste Erfahrungen (aus Gesprächen mit Westdeutschen) der Begrenztheit in der bundesrepublikanischen Betriebsverfassung. Hier sollen Positionen nicht widerstandslos geräumt werden - die unterstellt man u.a. auch einem kopflos und "gewendeten" FDGB.

Die Unterschrift unter die Vereinbarung zur Gewährung eines Überbrückungsgeldes (vom 8. Dezember 1990) für alle von "Umstrukturierungen" betroffenen Staats-Bediensteten (also auch Ex-MfS), hat für viele das Fass "FDGB" zum Überlaufen gebracht.

Vorerst will man aber im RdW nicht die Frage der Gewerkschaft angehen, und Betriebsräten als einheitliche Interessensvertretungsstruktur schaffen, um später auf die Gewerkschaften auch als pluralistisch-konkurrierende Organisationen zurückkommen.

Die Montagsdemonstration in Karl-Marx-Stadt vom 8.1.1990 stand unter diesem inhaltlichen Schwerpunkt (der nicht unabhängige Gewerkschaften, sondern Interessenvertretung hieß, so die Auskunft der Initiatoren zu dem Artikel der "Freien Presse") Diese erste stadtweite Mobilisierung erbrachte 60 000 Demonstranten.

Nicht nachgefragt werden konnte der Konflikt zwischen FDGB und SED-PDS zur Installierung der Betriebsräte. Sicher ist, dass die Forderung nach der Schaffung von BR bereits Anfang Dezember in den Oppositionsgruppen entwickelt wurde. In die Debatte zwischen Partei- und Gewerkschaftsführung scheinen jetzt auch Zweifel in der Funktionstüchtigkeit der BGL's hineinzustrahlen, aus denen zwangsläufig - zur Aufrechterhaltung der Produktion - Zugeständnisse an die Opposition erwachsen. Berichte vom Interesse der Firmenleitungen an dem neugeschaffenen Organ "RdW" scheinen dies zu bestätigen.

Gustav W(...) - 14.1.1990 -

aus: Demokratiebewegung - wie weiter?, Dezember 1989-Januar 1990, Demokratiebewegung in der DDR, Materialien zur gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, DGB-Bundesvorstand, Abt. gewerkschaftliche Bildung, ohne Ort und Datum