Betriebsräte oder Gewerkschaften?

Meinungen des Neuen Forum/GTL

In vielen Bereichen unseres Lebens hat sich in jüngster Vergangenheit eine Wende vollzogen. Vieles ist aber bis heute noch nicht ausreichend geklärt und gelöst. Es gibt immer noch Strukturen, die fast unangetastet sind: die "volkseigenen" Betriebe. Ein "Unternehmerverband der DDR" hat sieh schon konstituiert. Kombinats- und Betriebsdirektoren haben zurzeit uneingeschränkte Handlungsvollmacht. Viele von ihnen fahren in der westlichen Welt umher und versuchen sich schon jetzt als professionelle Manager zu profilieren. Dieses Managerdasein scheint um so lukrativer zu sein, desto weniger soziale Sicherheit in einem vereinten Deutschland und in Joint venture-Vereinbarungen übernommen werden. Wie sind sonst Eingaben und Mitteilungen von Werktätigen aus bisher 27 Betrieben des Bezirkes Leipzig zu werten, in denen Betriebsdirektoren in ihrem Wirkungsbereich jede Art von politischer (einschließlich gewerkschaftlicher und Betriebsratsbildung) Betätigung verbieten. (Die Schriftsätze liegen im Regionalzentrum Betriebsgruppen beim NEUEN FORUM Leipzig vor.) Die Möglichkeit einer Strafanzeige wegen verfassungsfeindlichem Verhalten wird durch die Staatsanwaltschaft geprüft.

Wie muss die Situation in unserem Betrieb eingeschätzt werden?

Die Zusammenarbeit mit der staatlichen Leitung des Betriebes (leider, aber nur in Person des Betriebsdirektors) ist gut, aber muss noch verbessert werden. Durch Initiativen der Betriebsgruppe NEUES FORUM konnten die Regelungen zur Einsichtnahme in die eigene Kaderakte drastisch gelockert werden. Unser Anteil an der Auflösung der Kampfgruppenhundertschaft und des hauptamtlichen Parteiapparates (SED) sowie an der Schrumpfung der Betriebsparteigröße sind unumstritten. Auch Möglichkeiten der Regelung bezüglich der Jahresendprämie wurden von unserer Betriebsgruppe aufgezeigt, wie auch der Modus der Prämienaufteilung im kommenden BKV. Letztlich würde, auch der "Runde Tisch" von uns initiiert.

Als gut, ohne nennenswerte Einschränkungen, kann auch die Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft bezeichnet werden, und das, obwohl sich das NEUE FORUM für die Bildung von Betriebsräten einsetzt. Dieses Pro zur Betriebsratsbildung leitet sich aus zwei Erkenntnissen und Erfahrungen ab:

1. Alle Gewerkschaften haben einen großen Vertrauensverlust erfahren und befinden sich in vielen Betrieben noch im Auflösungsprozess. Die Gewerkschaften waren, wie auch alle Blockparteien und die "SPD-Denker" in der SED, nur ein Transmissionsriemen der SED.

2. Im Zuge der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, deren progressivster Vorreiter das NEUE FORUM war und ist, ist die Präsenz von Betriebsräten unabdingbar, da der Gewerkschaft in einer Marktwirtschaft im vereinigten Deutschland andere Strukturen zufallen.

Es ist ein großer Irrtum zu glauben, dass Gewerkschaften und Betriebsräte miteinander konkurrieren - im Gegenteil: In der Marktwirtschaft benötigen Gewerkschaften starke gewerkschaftlich orientierte Betriebsräte und die Betriebsräte benötigen starke Gewerkschaften.

Es kann eingeschätzt werden, dass die Bildung eines Betriebsrates in unserem Betrieb kein akutes Erfordernis ist, da ein hoher Organisationsgrad in der Gewerkschaft vorhanden ist. Es sollten sich aber schon jetzt alle Kolleginnen und Kollegen, einschließlich der Gewerkschaftsfunktionäre, über die Bildung eines Betriebsrates Gedanken machen - lieber heute in Ruhe und Besonnenheit, als morgen in Hektik und Eile. Sicher ist dazu noch ein Umdenken bei vielen erforderlich. Mit der Diskussion darüber sollte Mitte bis Ende März dieses Jahres begonnen werden.

SIEGFRIED H. K(...)
Sprecher der BG NEUES FORUM


Antworten der GTL-Gewerkschaft

Die sanfte Revolution in unserem Land hat in vielen Bereichen den Anstoss zu einem Umdenken gegeben. Dabei haben die Leiter vieler Betriebe die Zeichen der Zeit richtig gedeutet, und sind in einen engen Kontakt zu kapitalkräftigen Partnern getreten. Im Interesse einer raschen Gesundung unserer Wirtschaft und Angleichung des Lebensstandards an den der BRD, ist das sehr zu begrüßen. Allerdings müssen einige der besagten Leiter "eigenverantwortlich" mit "eigenmächtig" bei ihren Entscheidungen verwechselt haben. In falsch verstandener "Entpolitisierung der Betriebe" haben sie auch gleich die Interessenvertretung der Werktätigen verboten. Wo das geschehen ist, liegt ein eindeutiger Verstoss gegen die Verfassung der DDR (Art. 44 und 45) vor und dementsprechend müssen die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Die diesbezüglichen Aktivitäten des NEUEN FORUM findet deshalb die Unterstützung der Gewerkschaften.

In unserem Betrieb arbeiten Gewerkschaft und Betriebsleitung derzeit auf der Grundlage der Fairness und gemeinsamer Verantwortung für den Betrieb, miteinander. Und endlich, nach der Aufhebung der Verordnung über das Einfrieren der Höhe der Jahresendprämie, gelang es, die seit mehreren Jahren latent immer präsente Forderung der Gewerkschaft nach Umwandlung der Jahresendprämie in ein 13. Monatsgehalt durchzusetzen. Insofern befand sich das NEUE FORUM/GTL im Konsens mit der Betriebsgewerkschaftsorganisation. Dass die Forderung der Gewerkschaft durch die Betriebsleitung übertroffen wurde, ist der fleißigen Arbeit der Angehörigen dieses Betriebes zu danken. Über den Entwurf für einen neuen BKV wird derzeit in den entsprechenden Gremien diskutiert, wobei über die Verteilung von irgendwelchen Geldern noch nicht entschieden ist. Sobald der neue BKV im Entwurf vorliegt, wird er den Angehörigen des VEB GTL zur Diskussion übergeben.

In der letzten Zeit wird häufig die Frage nach der Schaffung von Betriebsräten gestellt, wobei dann zumeist die kritiklose Übernahme des "Modells BRD" empfohlen wird. Als "Überzeugendes Argument" dafür spricht man von "viel größeren Mitbestimmungsrechten" der Betriebsräte gegenüber den Gewerkschaftsleitungen hier. Stellt man jedoch die Rechte und Pflichten beider Gremien gegenüber, so ergibt sich folgendes Bild: Die den Betriebsräten im Betriebsverfassungsgesetz der BRD, § 2/§ 80/§ 87 zugeschriebene Stellung und Aufgabe findet sich als Stellung und Aufgabe der "zuständigen betrieblichen Gewerkschaftsleitung" im AGB der DDR adäquat wieder. Insofern wären eine Übertragung, der Rechte und Pflichten der Gewerkschaft auf einen Betriebsrat ganz einfach witzlos.

Doch so einfach ist es nicht. Die Frage nach Betriebsräten entsteht aus der Erfahrung der Werktätigen mit parteiabhängigen Gewerkschaften und, der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung, die einer staatlichen Einheit Deutschlands zustrebt. Sollen wir aber deshalb als Gewerkschaft von vornherein unsere Rechte aus den Händen geben? Ist es nicht effektiver, wenn die betriebliche Mitbestimmung nahtlos in die flächendeckende Tarifpolitik übergeht? Der Alleinvertretungsanspruch des nicht mehr existenten alten FDGB ist vorbei. Die IG Metall versteht sich in erster Linie als Interessenvertreter ihrer Mitglieder. Trotzdem werden wir als BGO/GTL all jene, die noch nicht Mitglied der IG Metall sind, bei den von der Gewerkschaft erstrittenen Verbesserungen nicht ausgrenzen.

Die Betriebsgewerkschaftsorganisation ist zur Zusammenarbeit mit allen an einer starken Interessenvertretung der Werktätigen des VEB GTL interessierten Kräften bereit. Zur Vertretung der nicht der IG Metall angehörenden Werktätigen bieten wir unsere Hand zur Zusammenarbeit. Jedes BGL-Mitglied vertritt etwa 80 Mitglieder. Wenn die nicht der Gewerkschaft angehörenden Werktätigen aus ihren Reihen basisdemokratisch gewählte Vertreter im etwa gleichen Verhältnis finden, so sind wir dafür, diese mit vollem Stimmrecht in die BGL zu integrieren. Dadurch wären alle Werktätigen an der betrieblichen Mitbestimmung beteiligt.

Eines sei noch gesagt: Jede Interessenvertretung ist nur so stark, wie die Basis, auf die sie sich stützt. Unterstützen wir deshalb die gewählten Interessenvertreter, sich selbstbewusst für die Rechte der Werktätigen einzusetzen. Vereint sind wir, stark!

Klaus R(...),
Vors. der AGL 1

aus: Galvanospiegel, Nr. 1, 34. Jahrgang [eigentlich 35. Jahrgang], 16. Februar 1990, Betriebszeitung der Werktätigen des VEB Galvanotechnik Leipzig

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