"Wir brauchen bei uns keine Betriebsräte ..."

"Wir wollen starke Gewerkschaften in den Betrieben" - ein Gespräch mit Gerd H(...), AGL-Vorsitzender im VEB Elektroprojekt und Anlagenbau, Ost-Berlin

Das VEB EAB Berlin mit ca. 7 500 Beschäftigten gehört zu einem Kombinat mit ca. 35 000 Werktätigen mit Niederlassungen in der gesamten DDR. Gerd H(...) ist Technologe für Verfahrensentwicklung und zuständig für Ausstattung und Einrichtung der Werkstätten und als Abteilungsgewerkschaftsleiter (AGL) zuständiger gewerkschaftlicher Vertreter für ca. 200 Beschäftigte.

Red.: Ihr habt in eurem Betriebsteil schon eine Gewerkschaftsleitung bzw. eine Übergangsleitung gewählt. Von anderen Betrieben hört man, dass in puncto Interessenorganisation gar nichts läuft oder erst ganz kleine Ansätze gewerkschaftlicher Interessenorganisation da sind. Wieso ging das bei euch so schnell?

Gerd: Bei uns ist es so gewesen, dass meine AGL schon vor dem 7. Oktober beschlossen hat, etwas im Interesse der Werktätigen zu tun. Und zwar wurden unsere FDGB-Vertreter aufgefordert, zu der Medienpolitik der DDR Stellung zu beziehen. Im Betrieb herrschte nämlich große Beunruhigung über diese gigantische Ausreisewelle in den Westen. Die Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) intervenierte auch beim Zentralvorstand des FDGB und auch wenn dort nichts geschah, so sahen die Beschäftigten bei uns doch, dass ihre BGL etwas unternahm und das stellte das Vertrauen in die Gewerkschaften zumindest im Betrieb wieder her. Zwar hatten wir Angst, dass die Stasi jetzt eingreift, aber wir haben es trotzdem gemacht.

Vor diesem Hintergrund ist es uns bereits im November gelungen, eine neue Gewerkschaftsarbeit aufzubauen, die sich gelöst hatte von alten Strukturen und Funktionären, die mit neuen Leuten anfing, Gewerkschaftsarbeit von unten zu machen. Und so war es auch nicht schwer, Kandidaten für eine neue BGL zu finden.

Red.: Wie sieht die Situation in anderen Betrieben in puncto Neuwahlen der gewerkschaftlichen Interessenvertreter aus?

Gerd: Dass wir in dieser Beziehung schon relativ weit sind, ist auch noch einem anderen Umstand zu verdanken: Wir hatten schon sehr früh Kontakt zu Gewerkschaftern aus West-Berlin, so dass wir unmittelbar in unserem Betrieb die Möglichkeit hatten, Informationen zu erhalten und Erfahrungen auszutauschen. Insbesondere hat bei uns die Diskussion über Betriebsräte und das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVO) schon sehr früh eingesetzt, wobei wir festgestellt haben, dass wir eigentlich keine Betriebsräte und kein Betriebsverfassungsgesetz brauchen, sondern starke, von unten gewählte Gewerkschaftsvertreter. Denn die Regelungen, die wir in unserem Arbeitsgesetzbuch (AGB) hinsichtlich direkter und weitreichender Mitbestimmung haben, sind sehr viel einflussreicher, als das, was das BetrVG euch möglich macht. Es muss nur konsequent anders gehandhabt werden, als es In der Vergangenheit der Fall war.

Es gibt Betriebe, die in dieser Hinsicht und auch, was Neuwahlen angeht schon weiter sind als wir. Aber besonders in den kleineren Betrieben sieht es erheblich schlechter aus und ich denke, dass es außerhalb Ost-Berlins auch nicht gerade gut bestellt ist, wenn es um die Zerschlagung der alten Strukturen geht.

Red.: Ging euer Westkontakt über die formale Gewerkschaftsschiene oder war es ein privater Kontakt?

Gerd: Es lief über die "Initiative Unabhängige Gewerkschaften".

Red.: Wie ist die Stimmung bei euch im Betrieb in Bezug auf den FDGB? Gibt es nach dem Kongress noch sehr starke Vorbehalte und Misstrauen ?

Gerd: Bei uns im Betrieb wird das in etwa so gesehen, dass es der Kongress geschafft hat, den FDGB zu reformieren. Die unerhört große Machtzusammenballung wurde abgebaut und hat ihn zu einem kleinen Dachverband zusammenschrumpfen lassen. Wir bei uns im Betrieb reden nicht mehr vom FDGB, sondern nur noch von der IG Metall. Und diese IG Metall werden wir auf dem Delegiertenkongress im April ebenfalls von unten nach oben reformieren, d.h. wir wollen die gesamte Gewerkschaftsarbeit vom Kopf auf die Füße stellen. In Zukunft werden die betrieblichen Interessen und die Interessen der Beschäftigten nur noch von den Branchengewerkschaften, bei uns also der IG Metall, vertreten. Der FDGB ist für uns bedeutungslos, er wird in Zukunft nur noch Koordinationsaufgaben zwischen den Einzelgewerkschaften zu übernehmen haben. Leider haben in vielen Betrieben die Werktätigen noch nicht begriffen, dass ihre Interessen künftig nur durch sie und ihre Gewerkschaften vertreten werden. Viele warten noch immer auf Empfehlungen von oben.

Red.: Zum Schluss noch eine etwas allgemeinere Frage: Wie schätzt du die Stimmung im Betrieb, im Stadtteil, in Ost-Berlin zu den Einheitsbestrebungen ein, was auf der einen Seite heißt: Westkapital bestimmt in Ostbetrieben, Betriebe erster, zweiter und dritter Klasse, Armut und Arbeitslosigkeit, aber auch: mehr Waren, Westmark, westliche Konsumgewohnheiten?

Gerd: Leider wollen viele Leute die Westmark, übersehen aber überhaupt nicht die Konsequenzen, die eine Einführung oder gar eine überstürzte Einführung der Westmark als Preis mit sich bringt. Wir sind vom Produktivitätsniveau her in vielen Betrieben überhaupt nicht konkurrenzfähig und haben von daher gar keine Chance, wenn euer Herr Kohl sagt, wenn DM, dann aber bitte schön, auch die Marktwirtschaft. Das würde für uns heißen, wir hätten auf einem Schlag, eine hohe Zahl von Arbeitslosen, auf die wir überhaupt nicht vorbereitet sind. Am Anfang haben viele Leute, siehe die Montagsdemonstrationen in Leipzig, nach deutscher Einheit gerufen. Das ebbt langsam ab. Ich glaube, viele Leute fangen inzwischen an, nachzudenken, wie hoch denn der Preis einer solchen Einheit wäre. Ob das aber schon die Mehrheit der DDR-Bevölkerung ist, das weiß ich nicht.

Wir müssen hier dazu kommen, unsere Betriebe auf ein höheres Produktionsniveau zu bringen, was sicherlich nicht ohne westliche Unterstützung gehen wird. Zumindest für die Betriebe, bei denen es sich lohnt, eine höhere Produktivität zu erreichen, was unsere Währung auch etwas harter machen würde.

Red.: Und was passiert mit den anderen Betrieben ?

Gerd: Tja, das weiß ich auch nicht. Es ist ein Riesenproblem und wir werden um Arbeitslosigkeit nicht herum kommen. Das ist allen klar und die Angst um die Arbeitsplätze ist schon jetzt sehr groß.

In diesem Zusammenhang erhoffe ich mir von der neuen Regierung, dass sie bei den Veränderungsprozessen, eine langsamere Gangart einschlägt. Aber ich sehe auch, wie in Thüringen, woher ich selbst komme, auch von vielen Arbeitern die DSU/CDU-Position vertreten wird, also die Politik der Kapitalparteien. Und denen geht es ja scheinbar nicht schnell genug.

aus: PROWO, Projekt Wochenzeitung, Nr. 1, März 1990

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