SICH WEHREN TUT NOT

Gewerkschaften zwischen Anpassung und Widerstand

Kollege M(...), der frühere langjährige BGL Vorsitzende von Elektromontage Oranienburg, gibt zu, dass es schwer war, die Interessen der Kollegen gegenüber der Betriebsleitung zu vertreten. Er habe sich immer als 5. Rad am Wagen gefühlt. Bei sozialen Forderungen, zum Beispiel der Verbesserung der Arbeits und Lebensbedingungen der Monteure auf den vielen Baustellen, hätte er Druck ausüben müssen. Aber damit habe er quasi allein gestanden, die Gewerkschaft habe ihm nicht den Rücken gestärkt. Als ich ihn frage, ob die Mitarbeiter des Betriebes Vertrauen zur Gewerkschaft hätten, zögert Manfred M(...) mit der Antwort. Er schaut mich ernst, mit sorgenvollem Gesicht an, ehe er sich entschließt, die Frage zu bejahen. Die Kollegen hätten schließlich anerkannt, dass er sich für ihre Interessen eingesetzt habe. Weniger als zehn Prozent der Belegschaft sind seit November vergangenen Jahres aus der Gewerkschaft ausgetreten. Inzwischen gebe es die Tendenz der Rückkehr. Die Ängste in Bezug auf die Zukunft seien groß. Aber, ergänzt Stellvertreter Joachim B(...) nüchtern, ebenso groß wie die Angst sei auch die Lethargie der Kollegen. In die neue Rolle müssten die Gewerkschafter erst hineinwachsen.

Im November/Dezember sah es so aus, als ob der FDGB seine Rolle in der DDR Gewerkschaft ausgespielt hätte. Empörung der Mitglieder über die jahrzehntelange Unmündigkeit und Passivität der Organisation entlud sich in massenhaften Austritten. Hinzu kamen die Aufdeckung von Korruptionsskandalen um Harry Tisch, die Verwendung von Solidaritätsgeldern für das Pfingsttreffen der FDJ. Die Millionenorganisation verlor etwa 800 000 Mitglieder. Betriebsorganisationen, Kreisleitungen lösten sich auf. Der riesige schwerfällige Funktionärsapparat war diskreditiert und korrumpiert.

Landesweit bildeten sich einzelne Initiativen für Unabhängige Gewerkschaften, die sich inzwischen zu einer Gewerkschaftsbewegung konstituiert haben. Ihre Organisatoren üben scharfe Kritik am FDGB und halten ihn für nicht reformierbar.

Kirk K(...), ein 23jähriger Arbeiter aus der Schlosserei des VEB Elektromontage, versucht in Oranienburg mit viel Einsatz und Engagement für diese Alternative zu werben. Enttäuscht berichtet er, dass seine Bemühungen bisher ohne nennenswerte Resonanz blieben. Auch die Kollegen in seiner Werkstatt hören ihm zwar interessiert und freundlich zu, aber sie wollen erst einmal abwarten, ob aus der Initiative etwas wird.

"Die bleiben im FDGB, nur wegen der Ferienplätze und Kuren", sagt der junge Mann ohne Zorn. Den freien Posten des BGLers habe man ihm allerdings schon angeboten. Aber er wolle nicht wieder eintreten in die Gewerkschaft, deren zentralistische Strukturen er ablehne, gegen die er letztlich machtlos sei. Kirk K(...) tritt für eine klare Trennung zwischen der Betriebsleitung und der Gewerkschaft ein. Es gehe nicht an, dass staatliche Leiter gleichzeitig Gewerkschaftsfunktionäre seien. "Die verraten doch die Interessen der Arbeiter", sagt er ganz selbstverständlich und hofft, dass in naher Zukunft seine Kollegen die Notwendigkeit der Selbsthilfe erkennen werden.

Einheit oder Spaltung

Als Spalter werden die Begründer der Unabhängigen Gewerkschaftsbewegung (UGB) von den FDGB Funktionären angesehen. "Eine Spaltung", so heißt es in einer Erklärung des FDGB Bezirksvorstandes von Ende Dezember 1989, "diente noch nie den Interessen der Werktätigen. Gerade jetzt brauchen wir starke und einheitliche Gewerkschaften." Den Unabhängigen wurde das Angebot unterbreitet, darüber zu sprechen, wie in einer einheitlichen und unabhängigen Gewerkschaft, dem FDGB, die Interessen der Werktätigen noch wirkungsvoller vertreten werden können. "Noch wirkungsvoller", das ist die Sprache der alten Bürokratie, die unfähig war, die Sachverhalte beim Namen zu nennen. Überdeutlich ist der Versuch, die Abtrünnigen zu vereinnahmen. Das Argument der Einheit allerdings wiegt schwer. Sollten in unserem Land bald bundesrepublikanische Verhältnisse einziehen, hat eine neue, sich entwickelnde Gewerkschaft ohnehin kaum eine Chance. Schon jetzt verzeichnet das Berliner Kontaktbüro der UGB nach anfänglichem starken Andrang einen Rückgang des Interesses.

Noch ist alles im Fluss. Dem angeschlagenen Gewerkschaftsbund ist es seit seinem außerordentlichen Kongress im Februar offenbar gelungen, Erscheinungen der Erosion zu bremsen. Eine neue Leitung eine neue Struktur, drastische Reduzierung des Apparates werben um neue Glaubwürdigkeit. Am zentralen Runden Tisch und in der Volkskammer haben Vertreter der Gewerkschaft wesentlich an der Ausarbeitung eines neuen Gewerkschaftsgesetzes mitgewirkt, das den Vertretern der Arbeiter weitgehende Rechte in den Betrieben zusichert.

Auf der untersten Ebene, in den Betrieben, scheint davon jedoch nicht viel angekommen zu sein. Im Auslieferungslager SHB des Möbelkombinates Berlin höre ich nur Witzworte und sehe Schulterzucken auf meine Frage nach der Gewerkschaftsorganisation. "Bei uns nicht", sagt eine junge Frau in blauer Wattejacke entschieden. "Wir haben schon lange nichts mehr von denen gehört." Ihr fällt ein, im Betriebsteil nebenan soll neulich eine Versammlung gewesen sein.

Nebenan - das ist ein großes Möbellager, eine verfallene, backsteinerne Halle, die einmal schön gewesen sein muss. Inmitten von Schmutz und bröckelnden Steinen steht ein himmelblaues Plüschsofa mit gedrechselten Füßen. Sonderbarer Kontrast. Wie ich von Herrn D(...), dem stellvertretenden Versandleiter, erfahre, werden diese teuren Stücke seit kurzem preisgesenkt verkauft. Die Betriebsleitung versucht, die Bestände rasch loszuwerden. Irgendetwas braut sich zusammen über den Köpfen der Belegschaft. Herr D(...) ist Vertrauensmann der Gewerkschaft. Vor einigen Wochen erst wurde er mit großer Mehrheit gewählt. Seine Gewerkschaftsgruppe ist seit einem Monat wieder stark geworden, sagt er stolz. Damals hatten sie den stellvertretenden Direktor im Verdacht, hinter ihrem Rücken mit einer Westfirma zu verhandeln. Das hat die Leute aufgeschreckt und sie haben in einer heftig bewegten Versammlung Rechenschaft gefordert. Der stellvertretende Direktor wurde von seinem Vorgesetzten zurückgepfiffen, aber inzwischen sind die Mitarbeiter wieder mutlos geworden, sie werden weiterhin im Unklaren über die Zukunft gelassen.

Arbeitsmethoden wie in der Steinzeit

Im hässlichen Büro des Versandleiters, an den Wänden jahrzehntelang gedunkelte Tapeten, das vollgestellt ist mit den Ladenhütern aus dem Lager, finden sich nach und nach einige Kraftfahrer und Möbelträger ein. Das Thema Gewerkschaften bewegt sie. "Von denen ist noch nie etwas gekommen", sagt Kollege S(...), ein Arbeiter mittleren Alters. "Hier herrschen Arbeitsmethoden wie in der Steinzeit". Seit zwanzig Jahren schleppt er die Möbel auf seinem Rücken. Eine einzige Kur hat er in all den Jahren für sein kaputtes Kreuz bekommen. Als ich ihn frage, ob es Sinn hat, sich zusammenzuschließen und für die eigenen Rechte einzutreten, ernte ich nur Ablehnung und Abwinken. Schon der BGL-Vorsitzende zählt für sie zu den Herrschenden. "Man beschließt hier etwas, und es wird oben wieder unter den Teppich gekehrt", sagt Kollege F(...), ein blasser junger Kraftfahrer, resigniert. "Wer zu aufmüpfig ist, wird als erster entlassen." Alle nicken zustimmend. Vertrauen haben sie zu niemandem mehr, sagen sie. Die Leitungsebene ist geblieben. Die Chefs haben nur ihr Parteiabzeichen abgelegt und machen weiter wie bisher. "Die werden die neuen Unternehmer", sagt Frau S(...), eine Mitarbeiterin des Versands. "Sich wehren ist so schwer", fügt sie hinzu. "Wir sind doch jahrelang zum Kuschen und Anschwärzen erzogen worden".

Über die Zukunft des SHB macht sich niemand Illusionen. "Mit diesen Möbeln ist der Betrieb nicht haltbar", meint Kollege D(...). Die Schränke und Tische, die hier verkauft werden, würde er sich nicht einmal in den Keller stellen, ergänzt ein anderer. Die Hallen sind verfallen, die Dächer undicht - ich sollte mal kommen, wenn es regnet. Der Fahrzeugpark ist total veraltet. Ein LKW muss täglich mit dem Hammer gestartet werden, ein anderer läuft nie ohne Anschieben. Vier Autos stehen herum als Ersatzteilspender.

"Wir haben doch jedes Jahr riesige Umsätze gemacht", sagt Frau S(...). "Wo ist das Geld nur geblieben?"

Was werden sie tun, wenn es zu Entlassungen kommt? Schweigen, Ratlosigkeit. Die Vertrauensleute sollen mit am Tisch sitzen, sagen sie schließlich. Kollege D(...) will sich vor allem für die Kollegen einsetzen, die seit 15-20 Jahren gut gearbeitet haben.

Der Betriebsrat darf raten

Einige Tage später erfahre ich im Karlshorster Stammbetrieb der Möbelwerke Berlin, dass das SHB aufgelöst wird. Es geht also längst nicht mehr nur um die Entlassung von einzelnen. Aber nicht wegen dieser Information bin ich gekommen, sondern weil sich hier im Werk ein Betriebsrat gebildet hat. Es gibt zwar in der DDR noch kein Betriebsverfassungsgesetz, doch eine Initiativgruppe von Kollegen wollte nicht so lange warten. Etwas musste geschehen, um der Passivität und Orientierungslosigkeit der Belegschaft entgegenzutreten.

25 Mitglieder zählt das Gremium, an seiner Wahl beteiligte sich rund die Hälfte der Betriebsangehörigen. Mit dem Betriebsdirektor wurde eine vorläufige Vereinbarung unterzeichnet, die die Zusammenarbeit zwischen Betriebsrat, Gewerkschaft und der Direktion regelt. Der Vorsitzende Wolfgang D(...) betont mir gegenüber, dass der Betriebsrat nur beratende Funktion hat. Nur mit einer starken Gewerkschaft als Partner könne er letztlich in Verhandlungen etwas bewirken. Aber wie das im Konfliktfall aussehen würde, kann er sich noch nicht vorstellen. Das müssen sie erst lernen. Seine Schreibtischnachbarin Angelika K(...), ebenfalls Mitglied des Betriebsrates, schätzt, dass etwa die Hälfte der Kollegen bereit sei, mehr zu tun, als nur Beiträge für die Gewerkschaft zu zahlen.

Der Konfliktfall ist bereits vorprogrammiert. Am Vortag haben die Betriebsratsmitglieder einen Forderungskatalog an den Direktor verabschiedet. Sie wollen sich wehren gegen die Machenschaften ihres ehemaligen Kombinatsdirektors, die ihrem Betrieb die letzten Zukunftschancen rauben könnten. (Siehe auch "Ein Generaldirektor saniert sich".) Die Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel. Hätte er gewusst, dass es so bitter wird, hätte er vielleicht gar nicht kandidiert, gesteht Wolfgang D(...). "Wie wollten doch nicht die Privatwirtschaft, sondern den Sozialismus effektiver machen", sagt er und fügt mit Nachdruck hinzu: "Der Sozialismus war sanierbar, ebenso wie dieser Betrieb".

An der Stirnwand des Eingangsgebäudes sind noch die Spuren des Schriftzuges "Möbelkombinat Berlin" zu lesen. Mit dem Erbe dieser verfehlten Kombinatsbildung ist der Betrieb belastet. Fehlinvestitionen waren ihm diktiert worden. Ein teures neues Verwaltungsgebäude wurde gebaut, während in der Produktionsabteilung nebenan die Arbeiter manchmal bis zu den Stiefeln im Wasser standen. Für den Abteilungsleiter Grundfonds und Investitionen, T(...), ist der Betriebsrat viel zu zaghaft, um für die Belegschaft noch eine Zukunft zu sichern. "Entlassung ist immer das einfachste Mittel", sagt er, "aber in der Negativbilanz sind die Lohnkosten nur der geringste Teil. Materialkosten einzusparen, würde sich lohnen. Aber dafür braucht man Ideen", er winkt ab, kann seinen Zorn kaum zügeln. Nach seiner Meinung wäre es ein Wunder, wenn der Betrieb bis zum Jahresende noch existiert.

Nichts wird in unserer Gesellschaft so bleiben, wie es war. Den übermächtigen Staat, der uns alle bevormundete und zugleich versorgte, wird es bald nicht mehr geben. Jetzt hilft nur noch die Selbsthilfe - Ellenbogen oder Solidarität. Unerfahren und wehrlos wie in keinem kapitalistischen Land stehen die Arbeiter und Angestellten den kommenden Entlassungen und Betriebsschließungen gegenüber. Alte Strukturen des verordneten Zusammenwirkens haben sich aufgelöst. Gemeinsames Handeln und Vertrauen in die eigene Kraft müssen erlernt werden. Nach bitteren Erfahrungen werden wir wissen, was uns unsere eigene Würde wert ist.

Annette L(...)

aus: Die Andere Zeitung, 11/1990, 05.04.1990, Unabhängige Wochenzeitung, Herausgeber: Klaus Wolfram


Ein Generaldirektor saniert sich

Dr. Henri B(...), Generaldirektor des VEB Möbelkombinates Berlin, ist seit dem 1. Februar dieses Jahres ein General ohne Armee. Das Kombinat wurde aufgelöst. Die einzelnen Teilbetriebe sollen nun wieder selbständig arbeiten, bald auch ohne staatliche Stützung. Mitarbeiter des Berliner Stammbetriebes riefen in der Redaktion an und teilten uns zornig mit, wie sich der Generaldirektor um die Zukunft sorgt. Nicht etwa um die Zukunft der mehr als 100 Produktions- und Lagerstätten, von denen viele von der Schließung bedroht sind, weil Ausrüstung und Gebäude veraltet, die Produkte nicht konkurrenzfähig sind. Dr. B(...) sorgt sich allein um seine Zukunft und um die des nun überflüssig gewordenen Wasserkopfes der Kombinatsleitung. So brachte er noch rechtzeitig seine Getreuen aus der Abteilung I - der Filiale der Staatssicherheit im Kombinat - im Direktorat Verwaltung unter, als Kaderleiter zum Beispiel.

Vom zuständigen Minister wurde der Kombinatsdirektor zum Treuhändler für alle Möbelwerke der DDR eingesetzt, mit dem Auftrag, das Volkseigentum zu verwalten. Für die jahrelange Misswirtschaft, die die Möbelwerke in die jetzige Situation gebracht haben, fühlt sich Dr. B(...) nicht verantwortlich. Er habe nur nach den Anweisungen von Günter Mittag gehandelt, erklärte er nach der Wende.

Die beiden einzigen intakten Gebäude des Betriebes sollen an das Kombinat übergeben werden, desgleichen drei Großrechner und vier Kleinrechner sowie 14 neue Pkw. Die Rechner sind gewissermaßen die Konkursmasse einer grandiosen Fehlinvestition, die der Generaldirektor gegen alle Stimmen der Vernunft in den letzten Jahren erzwungen hatte. Millionen Mark wurden eingesetzt, um einen Betriebsteil zu automatisieren, während der Rest verfiel. Das Projekt scheiterte schließlich, Gebäude und Geräte wurden auf Anweisung B(...) so raffiniert abgeschrieben, dass der Staatsanwalt Mühe hätte, den Beweis zu erbringen.

Fakt ist, die wenigen Grundmittel und Ausrüstungen, die den Stammbetrieb in die Lage versetzen könnten, eine effektive Produktion in Gang zu setzen, um sein Überleben zu sichern, sollen ihm nun verloren gehen. Um seine eigenen Interessen zu sichern, torpedierte Dr. B(...) seit November alle Versuche, den Betrieb zu reorganisieren.

Kollege T(...), Leiter der Abteilung Grundfonds und Investitionen, sagte bitter: "Die Leute, die uns in die Misere hineingeritten haben, die sorgen dafür, dass ihre Machtpositionen erhalten bleiben. Ausbaden müssen es die kleinen Leute."

Annette L(...)

aus: Die Andere Zeitung, 11/1990, 05.04.1990, Unabhängige Wochenzeitung, Herausgeber: Klaus Wolfram

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